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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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schon älter und sein zerfurchtes Gesicht kam mir vage bekannt vor, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, wo ich ihm in der Stadt schon einmal begegnet war. Der Jäger warf mir einen eigenartigen Blick zu; ich glaubte, so etwas wie Schuldbewusstsein in seinem Gesicht zu lesen, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor. »Was machst du denn hier?«
    Ich wollte etwas sagen, aber ich hatte bis zu diesem Moment gar nicht bemerkt, wie sehr ich außer Atem war, und brachte kaum ein Wort hervor. Sekunden verstrichen, während ich nach Luft rang, um meine Stimme wiederzufinden. »Sie - müssen - aufhören. Meine Freundin ist hier im Wald. Sie wollte Fotos machen.«
    Er blinzelte zu mir herüber und sah dann in den immer dunkler werdenden Wald. »Jetzt?«
    »Ja, jetzt!«, erwiderte ich und gab mir Mühe, es nicht zu barsch klingen zu lassen. An seinem Gürtel hatte er ein schwarzes Kästchen. Ein Funkgerät. »Sie müssen denen Bescheid sagen, dass sie aufhören sollen. Es ist schon fast dunkel. Wie sollen die sie denn da noch sehen?«
    Einen qualvollen Moment lang starrte mich der Jäger nur an, dann nickte er. Er griff nach dem Funkgerät und löste es von seinem Gürtel. Langsam hob er es hoch und hielt es sich an den Mund. Es kam mir vor, als bewegte er sich in Zeitlupe.
    »Beeilen Sie sich!« Angst durchzuckte mich wie körperlicher Schmerz.
    Der Jäger drückte endlich den Knopf an seinem Funkgerät und sprach hinein.
    Plötzlich brach eine ganze Salve von Schüssen los, es krachte und knallte unmittelbar in unserer Nähe. Nicht das dumpfe Geknatter, das ich von der Straße aus gehört hatte, sondern ein donnerndes Feuerwerk, ganz eindeutig Schüsse. Mir dröhnten die Ohren.
    Trotzdem fühlte ich mich seltsam unbeteiligt, als stünde ich neben meinem Körper. Ich merkte, wie meine Knie weich wurden und zitterten, ohne zu wissen, warum. Ich hörte mein Herz rasen und sah etwas Rotes vor meinen Augen herabrinnen. Es war wie ein dunkelroter Traum. Wie ein verstörend klarer Albtraum über den Tod.
    Ich hatte einen so deutlich metallischen Geschmack im Mund, dass ich meine Lippen berührte, in der Erwartung, dort Blut zu spüren. Aber da war nichts. Kein Schmerz. Nur das Fehlen jeglichen Gefühls.
    »Da ist jemand im Wald«, sagte der Jäger in sein Funkgerät, als könne er nicht sehen, wie vor seinen Augen ein Teil von mir starb.
    Mein Wolf. Mein Wolf. Ich konnte an nichts anderes denken als an seine gelben Augen.
    »He, Miss!« Die Stimme klang jünger als die des Jägers. Eine kräftige Hand griff nach meiner Schulter. »Was haben Sie sich dabei gedacht, einfach so loszurennen?«, fragte Koenig. »Hier sind Leute mit Gewehren unterwegs!«
    Bevor ich antworten konnte, hatte Koenig sich dem Jäger zugewandt. »Und ich hab die Schüsse gehört. Wie der Rest der Stadt wahrscheinlich auch. Schlimm genug, dass wir überhaupt zu so was gezwungen sind«, heftig gestikulierte er in Richtung der Waffe, die der Jäger in den Händen hielt, »aber auch noch ein derartiges Spektakel daraus zu machen!«
    Ich versuchte, mich aus Koenigs Griff zu winden; zuerst packte er reflexartig noch fester zu, dann aber ließ er mich los, als ihm bewusst wurde, was er da gerade tat.
    »Sie waren doch neulich auch da in der Schule. Wie ist denn Ihr Name?«
    »Grace Brisbane.«
    Auf dem Gesicht des Jägers dämmerte die Erkenntnis. »Die Tochter von Lewis Brisbane?«
    Koenig sah ihn an.
    »Die Brisbanes wohnen gleich da drüben. Direkt am Waldrand.« Der Jäger zeigte in Richtung unseres Hauses, das unsichtbar hinter dem schwarzen Gewirr von Bäumen lag.
    Diese Information kam Koenig wie gerufen. »Ich begleite Sie jetzt erst mal nach Hause, und dann versuche ich herauszufinden, was mit Ihrer Freundin ist. Ralph, benutz das Ding da mal zu was Nützlichem und sag denen, dass sie gefälligst mit dieser Schießerei aufhören sollen.«
    »Ich brauche keine Begleitung«, murrte ich, aber Koenig kam trotzdem mit und ließ Ralph, den Jäger, stehen und in sein Funkgerät sprechen. Die kalte Luft fing langsam an, mir unangenehm auf den Wangen zu prickeln, und der Abend wurde schnell kälter, je tiefer die Sonne sank. Innerlich fühlte ich mich genauso erfroren wie äußerlich. Ich sah noch immer den roten Vorhang, der sich langsam über meine Augen senkte, und hörte die krachenden Gewehrschüsse.
    Ich war so sicher, dass mein Wolf dort war.
    Am Waldrand angelangt, blieb ich stehen und starrte auf die dunkle Verandatür. Das ganze Haus wirkte verlassen

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