Nach Dem Sommer
Lächeln verrutschte keinen Millimeter. »Na gut«, gab sie nach. »Weißt du, er hat ganz schön Glück gehabt. Dass die Kugel ihn nur gestreift hat.« Ihre Augen blitzten. »Hast du eine Ahnung, warum er das gemacht hat?«
Ich runzelte die Stirn, ein Kribbeln durchlief mich. »Ich verstehe nicht ganz. Warum er in den Wald gegangen ist?«
»Schätzchen, wir wissen doch beide, dass er nicht im Wald war.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und wartete, was sie als Nächstes sagen würde, aber sie redete nicht weiter. Ich entgegnete: »Doch, sicher. Klar war er das. Ein Jäger hat ihn versehentlich getroffen.« Was ja auch nicht gelogen war. Na ja, nur das »versehentlich«. Das war kein Unfall gewesen, da war ich mir ziemlich sicher.
Sunny schnalzte mit der Zunge. »Hör mal - Grace, nicht wahr? Grace, bist du seine Freundin?«
Ich grummelte etwas, was man sowohl als Ja als auch als Nein verstehen konnte.
Sunny wählte das Ja. »Ich weiß, das Ganze geht dir sehr nah, aber er braucht wirklich Hilfe.«
So langsam dämmerte es mir. Beinahe hätte ich angefangen zu lachen. »Ach so, Sie denken, er wollte sich erschießen. Hören Sie -Sunny, nicht wahr? Sunny, da liegen Sie falsch.«
Die Krankenschwester warf mir einen stechenden Blick zu. »Hältst du uns eigentlich für blöd? Meinst du etwa, wir sehen so was nicht?« Sie ergriff Sams Arme und drehte sie so, dass seine Handflächen zur Decke wiesen wie in einem stummen Flehen. Dann zeigte sie auf die Narben an seinen Handgelenken, Erinnerungen an tiefe, absichtlich zugefügte Wunden, die tödlich hätten sein sollen.
Ich starrte darauf, aber sie kamen mir vor wie Wörter aus einer fremden Sprache. Sie hatten keinerlei Bedeutung für mich. Ich zuckte mit den Schultern. »Die hatte er schon, bevor ich ihn kennengelernt habe. Ich kann Ihnen nur sagen, dass er heute Abend nicht versucht hat, sich zu erschießen. Das war so ein durchgedrehter Jäger.«
»Na klar, Schätzchen. Sicher. Sag einfach Bescheid, wenn ich was für dich tun kann.« Sunny sah mich noch einmal misstrauisch an, bevor sie wieder hinter dem Vorhang verschwand und mich mit Sam allein ließ.
Meine Wangen glühten. Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass meine Knöchel ganz weiß waren, so fest hatte ich mich ans Bett geklammert. Auf der Liste aller Dinge, die mich auf die Palme brachten, standen herablassende Erwachsene vermutlich an erster Stelle.
Eine Sekunde nachdem Sunny fort war, schlug Sam die Augen auf und ich fiel vor Schreck beinahe hintenüber. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Eine ganze Weile starrte ich ihn einfach nur an, bis mein Puls sich wieder beruhigt hatte. Mein gesunder Menschenverstand befahl mir, seine Augen als haselnussbraun zu sehen, aber in
Wirklichkeit waren sie nach wie vor gelb - und definitiv auf mich gerichtet.
Meine Stimme war viel leiser, als ich beabsichtigt hatte. »Ich dachte, du schläfst noch.«
»Wer bist du?« Er fragte es mit demselben rätselhaften, traurigen Unterton, den ich schon aus seinem Heulen kannte. Seine Augen wurden schmal. »Deine Stimme kommt mir so bekannt vor.«
Das tat weh. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass er sich vielleicht gar nicht an seine Zeit als Wolf erinnerte. Wie sollte ich mich jetzt verhalten, gab es Regeln für so etwas? Sam streckte die Hand nach meiner aus und reflexartig reichte ich sie ihm. Schuldbewusst lächelnd führte er meine Hand an seine Nase und schnüffelte daran, einmal, dann noch einmal. Sein Lächeln wurde breiter, wirkte jedoch noch immer schüchtern. Es war so liebenswert, dass mir der Atem irgendwo in der Brust stecken blieb.
»Diesen Geruch kenne ich. Ich hab dich gar nicht erkannt, du siehst so anders aus. Tut mir leid. Wie blöd von mir, mich nicht zu erinnern. Es dauert immer ein paar Stunden, bis mein Kopf - bis ich zurückkomme, wenn ich -«
Er ließ meine Hand nicht los, und ich zog sie auch nicht weg, obwohl ich mich nur schwer konzentrieren konnte, solange ich seine Haut an meiner spürte. »Wenn du wo gewesen bist?«
»Wenn ich wer gewesen bin«, berichtigte er mich. »Wenn ich -«
Sam hielt inne. Er wollte, dass ich es selbst aussprach. Es mir laut einzugestehen, fiel schwerer, als ich geglaubt hatte, irgendwie hätte es leichter sein sollen.
»Wenn du ein Wolf gewesen bist«, flüsterte ich. »Warum bist du überhaupt hier?«
»Na ja, weil ich angeschossen wurde?«, fragte er zurück.
»Ich meine doch - so.« Ich deutete auf seinen Körper, der sich eindeutig menschlich unter
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