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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Jacks Blut. »Ein paar von den anderen haben mir gezeigt, dass er ihnen irgendwie wehgetan hat. Mit einem - Gewehr? Er muss ein Luftgewehr oder so gehabt haben. Und er hatte ein rotes T-Shirt an.« Wölfe können schlecht Farben unterscheiden, aber Rot erkannten wir.
    »Warum sollte er so was tun?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Über solche Sachen reden wir nicht.«
    Grace war still, sie dachte wohl immer noch über Jack nach. Das Schweigen vertiefte sich, bis ich mich schließlich fragte, ob sie wohl wütend war. »Dann darfst du ja niemals Weihnachtsgeschenke auspacken«, sagte sie schließlich.
    Ich sah sie an. Darauf wusste ich keine Antwort. Weihnachten, das war etwas aus einem anderen Leben, meinem Leben vor den Wölfen.
    Grace betrachtete versonnen das Lenkrad. »Ich hab nur darüber nachgedacht, dass ich dich im Sommer nie gesehen habe und dass ich mich immer auf Weihnachten gefreut habe, weil ich wusste, dass du dann wieder da sein würdest. Im Wald. Als Wolf. Weil es dann kalt ist, richtig? Und das bedeutet ja dann, dass du niemals Weihnachtsgeschenke auspacken darfst.«
    Wieder schüttelte ich den Kopf. Mittlerweile verwandelte ich mich sogar zu früh, um noch den Weihnachtsschmuck in den Geschäften mitzuerleben.
    Grace starrte weiter auf das Lenkrad und runzelte die Stirn. »Denkst du an mich, wenn du ein Wolf bist?«
    Als Wolf war ich nichts als eine blasse Erinnerung an einen Jungen, der sich verzweifelt an Wörter ohne Bedeutung klammerte. Die Wahrheit wollte ich ihr nicht sagen: dass ich mich dann nämlich nicht einmal an ihren Namen erinnern konnte.
    »Ich denke an deinen Geruch«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich streckte die Hand aus und hob ein paar ihrer Haarsträhnen an meine Nase. Der Duft ihres Shampoos und - etwas schwächer - der Duft ihrer Haut. Ich schluckte und ließ die Strähnen wieder auf ihre Schulter fallen. Grace folgte meiner Hand mit den Augen, von ihrer Schulter zurück in meinen Schoß, und ich sah, dass auch sie schlucken musste. Die unvermeidliche Frage - wann ich mich wieder verwandeln würde - stand zwischen uns, aber keiner von uns wollte sie in Worte fassen. Ich war noch nicht so weit, es ihr zu sagen. Beim Gedanken daran, all das hier zurücklassen zu müssen, zog sich mir die Brust zusammen.
    »Und«, brach sie schließlich das Schweigen und legte die Hand aufs Lenkrad, »kannst du Auto fahren?«
    Ich zog mein Portemonnaie aus der Jeanstasche und hielt es ihr hin. »Zumindest hier in Minnesota scheinen sie dieser Meinung zu sein.«
    Sie nahm meinen Führerschein heraus, hielt ihn vor sich hoch und las laut vor: »Samuel K. Roth.« Und etwas überrascht fügte sie hinzu: »Das ist ja ein richtiger Führerschein. Dann gibt's dich ja anscheinend wirklich.«
    Ich musste lachen. »Das glaubst du immer noch nicht?«
    Anstatt zu antworten, gab Grace mir das Portemonnaie zurück und fragte: »Heißt du echt so? Wirst du nicht für tot gehalten wie Jack?«
    Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich darüber reden wollte, aber ich antwortete trotzdem. »Bei mir war es anders. Meine Bisswunden waren nicht so schlimm, und außerdem wurde ich gefunden, bevor die Wölfe mich in den Wald zerren konnten. Niemand hat mich für tot erklärt, wie sie das bei Jack gemacht haben. Also ja, ich heiße echt so.«
    Grace wirkte so versunken; ich fragte mich, woran sie wohl dachte. Dann sah sie mich plötzlich düster an. »Deine Eltern wissen also, was du bist, nicht wahr? Und darum haben sie -«
    Sie verstummte und senkte die Lider. Wieder schluckte sie.
    »Noch Wochen später ist einem schlecht«, sagte ich und bewahrte sie so davor, den Satz beenden zu müssen. »Liegt am Wolfsgift, schätze ich, während es einen verändert. Ich konnte einfach nicht aufhören, mich hin- und herzuverwandeln, egal, wie warm oder kalt mir war.« Ich hielt inne. Die Erinnerungen flimmerten durch meinen Kopf wie Fotos, die jemand anders geschossen hatte.
    »Sie dachten, ich wäre besessen. Dann wurde es wärmer und mir ging's besser - ich blieb stabil, meine ich, und sie glaubten, ich wäre geheilt. Oder errettet, was weiß ich. Bis der Winter kam. Eine Zeit lang haben sie versucht, die Kirche dazu zu bewegen, meinetwegen etwas zu unternehmen. Und schließlich haben sie's selbst in die Hand genommen. Sie haben beide lebenslänglich gekriegt. Wir sind nicht so leicht umzubringen wie andere Leute, aber das konnten sie ja nicht wissen.«
    Grace wurde ein bisschen grün um die Nase, und ihre

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