Nach Dem Sommer
Knöchel an der Hand, mit der sie sich am Lenkrad festklammerte, waren ganz weiß. »Reden wir lieber über was anderes.«
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich, und das tat es wirklich. »Komm, wir reden über Autos. Soll dieser Prachtkerl hier dein Auserwählter sein? Ich meine, wenn er anständig läuft und so? Ich hab zwar keine Ahnung von Autos, aber ich kann ja so tun, als ob. Ich finde, >läuft anständig< klingt wie etwas, was einer sagen würde, der sich damit auskennt, oder nicht?«
Sie ließ sich auf das Thema ein und strich mit der Hand über das Lenkrad. »Mir gefällt er.«
»Er ist potthässlich«, sagte ich großmütig. »Aber dafür sieht er aus, als wäre Schnee für ihn ein Witz. Und wenn du ein Reh anfährst, hickst er wahrscheinlich bloß einmal und fährt weiter.«
»Außerdem hat er super Vordersitze«, fügte Grace hinzu. »Guck mal, ich kann einfach so -« Sie beugte sich über die Sitzbank zu mir herüber und stützte sich mit einer Hand leicht auf mein Bein. Jetzt war sie nur noch Zentimeter von mir entfernt, nahe genug, dass ich ihren warmen Atem auf meinen Lippen spürte. Nahe genug, dass ich spürte, wie sehr sie sich wünschte, ich würde mich auch zu ihr hinüberlehnen.
In meinem Kopf blitzte ein Bild von Grace auf, wie sie in ihrem Garten stand und die Hand nach mir ausstreckte, mich beinahe anflehte, zu ihr zu kommen. Doch das konnte ich damals nicht. Ich gehörte einer anderen Welt an, nach deren Regeln ich mich von ihr fernhalten musste. Nun fragte ich mich, ob ich noch in dieser Welt lebte und diese Regeln noch immer für mich galten. Es war, als hielte meine menschliche Gestalt mich nur zum Narren, als wollte sie mich mit Schätzen locken, die sich beim ersten Frost in nichts auflösen würden.
Ich rückte ein wenig von ihr ab und schaute weg, um ihre Enttäuschung nicht sehen zu müssen. Um uns verdichtete sich die Stille.
»Wie war das, als du gebissen wurdest?«, fragte ich, nur um das Schweigen zu brechen. »Bist du danach krank geworden?«
Grace lehnte sich zurück und seufzte. Ich fragte mich, wie oft ich sie wohl schon so enttäuscht hatte.
»Ich weiß nicht mehr genau. Das ist schon so lange her. Irgendwie schon - glaube ich. Direkt danach hatte ich Grippe, das weiß ich noch.«
Als ich gebissen worden war, hatte sich das auch wie eine Grippe angefühlt. Erschöpfung, Fieber, Schüttelfrost. Übelkeit, die mir in der Kehle brannte. Und meine Knochen schmerzten, begierig darauf, ihre Form zu verändern.
Grace zuckte mit den Schultern. »Das war das Jahr, in dem ich auch im Auto eingeschlossen wurde. Ungefähr ein, zwei Monate nach dem Angriff. Es war noch Frühling, aber schon richtig warm draußen. Mein Dad hatte mich zum Einkaufen mitgenommen -wahrscheinlich war ich noch zu klein, um allein zu bleiben.« Sie warf mir einen prüfenden Blick zu, um zu sehen, ob ich auch zuhörte. Und ob.
»Auf jeden Fall hatte ich also Grippe und ich war wohl total benommen. Und auf dem Nachhauseweg bin ich dann auf dem Rücksitz eingeschlafen ... und im Krankenhaus wieder aufgewacht. Was dazwischen war, weiß ich nicht. Ich nehme mal an, als wir zu Hause ankamen, hat Dad die Einkäufe aus dem Wagen geholt und mich dringelassen. Hat mich wohl einfach vergessen. Die haben uns nachher erzählt, ich hätte versucht, mich zu befreien, aber daran erinnere ich mich überhaupt nicht. Bis zum Krankenhaus, als die Schwester sagte, das wäre der heißeste Maitag gewesen, der je in Mercy Falls gemessen wurde, erinnere ich mich an gar nichts. Der Arzt hat gesagt, dass die Hitze im Auto mich eigentlich hätte umbringen müssen. Ich bin also so eine Art Supergirl. Na, wenn das kein Musterbeispiel für einen verantwortungsvollen Vater ist.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. In der kurzen Stille danach merkte ich, wie fassungslos sie noch immer darüber war und wie leid es mir tat, sie nicht geküsst zu haben, als ich eben noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Ich überlegte fast, ob ich so was sagen sollte wie »Zeig mal, was du gerade gemeint hast, als du sagtest, dir gefallen die Vordersitze hier drin«. Aber das brachte ich einfach nicht über die Lippen. Stattdessen griff ich nur nach ihrer Hand, strich mit dem Zeigefinger über die Innenfläche und an den Fingern entlang, zeichnete ihre Handlinien nach und ließ ihre Fingerabdrücke unter meine Haut sinken.
Grace stieß einen kleinen, zufriedenen Laut aus und schloss die Augen, während meine Finger flüsternd auf ihrer Haut
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