Nach Dem Sommer
sprechen.«
Ich lachte.
»Ulrik ist in Deutschland geboren«, erzählte Sam. »Der kennt jede Menge Märchen über Werwölfe.« Er bog in die Hauptstraße ein, die durch die Stadt führte, und suchte nach einer Parklücke. »Er sagte, dass sich die Leute absichtlich beißen ließen. Früher, meine ich.«
Ich blickte aus dem Fenster auf Mercy Falls. Die Geschäfte, alle in Braun und Grau, wirkten unter dem bleiernen Himmel noch brauner und grauer, und für Oktober war es beunruhigend winterlich. Nicht ein grünes Blatt hing mehr an den Bäumen am Straßenrand und einige waren schon ganz kahl und ließen die Stadt noch trostloser aussehen. Beton, so weit das Auge reichte. »Warum das?«
»In den alten Geschichten haben sich die Menschen in Wölfe verwandelt und Schafe und andere Tiere gerissen, wenn das Essen knapp war. Manche haben sich auch nur zum Spaß verwandelt.«
Ich betrachtete sein Gesicht, versuchte, seine Stimme zu interpretieren. »Macht das denn so viel Spaß?«
Er wandte den Kopf - ich dachte erst, dass er sich für die Antwort schämte, bis mir klar wurde, dass er über die Schulter sah, um vor einer Reihe von Geschäften einzuparken. »Einigen von uns gefällt es schon, vielleicht sogar besser, als Mensch zu sein. Shelby findet es toll - aber wie gesagt war ihr Leben als Mensch wohl auch ziemlich schrecklich. Ich weiß es nicht. Mein Wolfsich ist mittlerweile ein so großer Teil meines Lebens, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, wie es ohne wäre.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Sam sah mich an, seine gelben Augen fanden meinen Blick und hielten ihn gefangen. »Mir fehlt es, ich zu sein. Du fehlst mir. Die ganze Zeit.«
Ich senkte den Blick auf meine Hände. »Jetzt aber nicht, oder?«
Sam langte über die Sitzbank und strich mir übers Haar, ließ die Hand hindurchgleiten, bis er nur noch die Spitzen zwischen den Fingern hielt. Er betrachtete die Haare so eingehend, als verberge sich in den dunkelblonden Strähnen womöglich die gracesche Formel. Seine Wangen bekamen Farbe; er wurde immer noch rot, wenn er mir Komplimente machte.
»Nein«, gab er zu, »im Moment weiß ich noch nicht mal mehr, wie es ist, unglücklich zu sein.«
Irgendwie trieb mir das die Tränen in die Augen. Ich blinzelte, froh darüber, dass er immer noch mein Haar betrachtete. Lange Zeit sagte keiner von uns etwas.
»Du erinnerst dich nicht an den Angriff«, sagte er dann.
»Was?«
»Du erinnerst dich überhaupt nicht daran, wie du angegriffen wurdest, oder?«
Ich runzelte die Stirn und hob den Rucksack auf meinen Schoß. Der scheinbar abrupte Themenwechsel irritierte mich. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Mir kommt es vor, als wären dort eine Menge Wölfe gewesen, viel mehr als tatsächlich möglich, würde ich sagen. Und ich erinnere mich an dich - wie du erst ein Stück weiter weg stehen geblieben bist und dann nur meine Hand berührt hast«, Sam berührte meine Hand, »und dann meine Wange«, er berührte meine Wange, »während die anderen an mir zerrten. Ich nehme mal an, die wollten mich fressen, oder nicht?«
Seine Stimme klang sanft. »Und du erinnerst dich nicht, was danach passiert ist? Wie du überlebt hast?«
Ich versuchte mich zu erinnern. Da war lauter Schnee und Rot und Atem in meinem Gesicht. Und dann meine Mom, die schrie. Aber dazwischen musste doch auch etwas passiert sein. Irgendwie musste ich vom Wald nach Hause gelangt sein. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich lief, durch den Schnee stolperte. »Bin ich gelaufen?«
Er sah mich an, wartete darauf, dass ich meine Frage selbst beantwortete.
»Gelaufen bin ich nicht, das weiß ich. Ich kann mich nicht erinnern. Warum kann ich mich nicht erinnern?« Jetzt war ich wirklich unzufrieden mit meinem Kopf, der anscheinend unfähig war, mir die Antwort zu liefern. Die Frage war doch gar nicht schwer. Doch alles, was mir in den Sinn kam, war Sams Geruch, überall Sam, und dann die ungewohnten Laute meiner panischen Mom, als sie zum Telefon rannte.
»Schon gut«, beruhigte mich Sam. »Das macht doch nichts.«
Aber ich hatte das Gefühl, dass es doch etwas ausmachte.
Ich schloss die Augen und erinnerte mich an den Duft des Waldes an diesem Tag, an das seltsam schaukelnde Gefühl auf dem Weg zurück zum Haus und an ein Paar Arme, das mich fest umschlang. Ich schlug die Augen wieder auf. »Du hast mich getragen.«
Sam sah auf.
Nun kehrte alles zurück, so wie man sich an Fieberträume erinnert. »Aber du warst ein Mensch«, fuhr ich
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