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Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Nach dem Sturm: Roman (German Edition)

Titel: Nach dem Sturm: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Farris Smith
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meiner wenigen klugen Entscheidungen.«
    Cohen nahm noch einen Schluck. Kniete sich neben das Feuer, das jetzt größtenteils Asche war.
    »Es dauert nicht mehr lange bis zum Morgengrauen«, sagte er. »Es wird bald wieder richtig schlimm regnen. Du solltest dich besser hinlegen.«
    »Sollte ich wohl«, sagte Kris. »Gib mir nur noch einen Schluck.«
    »Das ist doch nicht gut, hast du gesagt.«
    Sie streckte die Hand aus. »Ist es auch nicht. Aber es ist ein gutes Schlafmittel.«
    Er reichte ihr die Flasche. Sie nahm einen Schluck, schüttelte den Kopf und nahm noch einen. Sie gab ihm die Flasche zurück und sagte, uff. Mariposa half ihr, aufzustehen, und begleitete Kris, die unsicher zu ihrem Wohnwagen ging. Cohen fragte, ob sie Hilfe brauchten, aber Kris sagte, nee, spar du dir mal deine Kräfte auf, um uns zur Linie zu bringen. Du hast ja gehört, was ich gesagt habe, ich will’s jetzt behalten. Wenn Gott es zulässt.
    Mariposa schloss die Tür hinter Kris und kam zurück. Cohen trank wieder etwas. Sie strich sich mit der Hand übers Gesicht und sagte: »Du willst doch nicht die ganze Zeit hier im Regen sitzen, oder?«
    Er schaute zum Nachthimmel. »So stark regnet’s doch gar nicht.«
    »Wird es aber bald. Hast du selbst gesagt.«
    Er nickte.
    Sie trat auf ihn zu und streckte die Hand aus. Er schaute die Hand an. Sie war nass und sah sehr zart aus. Die ganze Person wirkte sehr zart. Er schaute sich um, dann raus aufs Feld, wo Aggie und Ava lagen. Dann schaute er sie wieder an und ihre ausgestreckte Hand. Sie zitterte. Vielleicht vor Kälte oder Angst oder sonst was.
    Er fasste sie an, und sie führte ihn in ihren Wohnwagen.

25
    Es schien, als wäre ihr ganzes Leben von ihrer Vorstellungskraft bestimmt worden. Von Kindheit an war ihr Kopf angefüllt mit Geistergeschichten, wenn sie hinter dem Vorhang verborgen den Geständnissen jener Menschen lauschte, die ihre Großmutter dafür bezahlten, dass sie mit der anderen Welt Verbindung aufnahm. Auch die Geister, die sich im French Quarter in New Orleans im Schein der Straßenlaternen versammelten, und ihre eigenen kindlichen Ideen über diesen Bereich zwischen Realem und Erfundenem waren ihr stets wichtig gewesen. Die Frau am Jackson Square, die Tarot-Karten legte und der sie zuhören durfte, der freundliche Vampir, der im Winter vor Lafitte’s stand und Friedhofsbesichtigungen veranstaltete, die Mardi-Gras-Masken und die großartigen Kostüme bei den Umzügen. Die Geschichten, die sie sich für die Stammgäste im Laden ihres Vaters ausdachte, und die Geschichten, die ihr in den Sinn kamen, wenn sie durch die Fenster von leeren Häusern schaute, wenn ihre Mutter sie zur Schule brachte, die Schiffe, die den Fluss hinauf und hinunter fuhren, mit schönen Männern und Frauen, die sie sich an Deck sitzend vorstellte, während sie in die Stadt hinein oder hinaus fuhren.
    Und dann die Stürme. Schlimme und noch schlimmere, die immer öfter aufkamen, die zeitweiligen Evakuierungen, dann die ständigen Evakuierungen, dann die Vorhersagen, dass das Wetter in den nächsten Jahren so bleiben und alles zerstören würde. Viele lachten darüber und weigerten sich, es zu glauben, aber ihr war ziemlich schnell klar geworden, was das bedeutete. Sie lag nachts wach, wenn der nächste Sturm sich ankündigte, und malte sich die bevorstehende Katastrophe in den wildesten Farben aus, sah die Schindeln von den Dächern fliegen, hörte das Knacken der Baumstämme und spürte, wie die Flut ihr bis zum Hals reichte. Sie sah die Überreste der Gebäude, die Wracks der Schiffe und die zerstörerischen Wellen und hörte den dröhnenden Donner, bevor er überhaupt da war. Und wenn der Sturm dann wirklich losbrach und vielleicht nicht ganz so war, wie sie es sich vorgestellt hatte, dann wurde sie von dieser Melancholie erfasst, die bis zur nächsten Warnung dauerte. Dann malte ihr Verstand sich eine neue Katastrophe aus, und manchmal erreichte die Wirklichkeit des Sturms die Ausmaße, die sie sich auf ihrer imaginären Landkarte vorgestellt hatte. Sogar, als die Stürme noch schlimmer wurden und sich in lang anhaltende Perioden der Zerstörung verwandelten, kam es ihr vor wie etwas, das sie schon vorher gesehen hatte, als wäre sie, wenn sie die Augen schloss, schon immer in einer anderen Welt gewesen, wo Mutter Natur eine rachsüchtige Göttin war. Kein Himmel konnte dunkler und düsterer sein als der hinter ihren Augen, und kein Wind konnte machtvoller sein als der in ihrem Kopf.
    Dann

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