Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
»Das letzte Mal, als ich dich mitgenommen habe, bin ich fast umgekommen.«
Er hob ihre Hände an und besah sie auf beiden Seiten wie ein Magier, der überprüfen wollte, dass da wirklich keine Schlingen waren. »Diese Lektion dürftest du ja inzwischen gelernt haben.«
»Ja, hab ich.«
Er zog seine Strickmütze ab, schüttelte das Regenwasser aus und zog sie wieder an.
»Ich weiß jetzt, warum du das getan hast«, sagte sie.
»Warum ich was getan habe?«
»Ich weiß jetzt, warum du es dir zurückholen wolltest.«
Cohen schüttelte den Kopf. »Du hast letzte Nacht gar nichts gesehen.«
Sie nickte. »Ich weiß. Aber jetzt kann ich es sehen. Ich sehe, dass sie dich wirklich geliebt hat. Und du hast sie wirklich geliebt. Das sagen mir all diese kleinen Dinge. Ich hab’s jetzt verstanden.«
Cohen schaute sie nicht mehr an. Er warf einen Blick über die Schulter auf den Schuhkarton hinter dem Sitz, als würde Elisa dort sitzen. Dann schaute er zu den brennenden Wohnwagen und über das überflutete Land. Er presste seine Hände zusammen, als würden sie zwei verschiedenen Menschen gehören, die einander vermissten. Hinter ihm ertönte die Hupe eines der Pick-ups, aber er achtete nicht darauf. Bewegte sich nicht.
»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte sie leise.
Er nahm die Hände auseinander und bewegte den Kopf im Kreis, als wollte er einen Krampf lösen. Dann machte er die Jacke auf und holte eine Zigarette heraus. Er zündete sie an, schaltete in den ersten Gang und erklärte ihr, es spiele keine Rolle, was sie sage. Niemand weiß, was er tun wird, bis der Moment gekommen ist, in dem er es tut.
Die drei Fahrzeuge rollten langsam über das unwegsame, von Wind und Wetter gepeitschte Gelände. Als sie die Himmel Road erreichten, gewann der Regen die Oberhand über die Feuer.
DRITTER TEIL
27
Es war ein kaum übersehbares Spektakel. Draußen über dem Golf tobte das Gewitter, und zahllose Blitze zuckten unaufhörlich über den schwarzen Himmel. Das Ganze sah aus wie ein Feuerwerk, das direkt aus den Fingerspitzen des Allmächtigen über die Erde flammte. Wer nicht am Steuer saß, schaute gebannt zu. Die Fahrer behielten ein Auge auf die Straße gerichtet, das andere spähte nach oben.
Einmal hielten sie an, um dem Baby die Windeln zu wechseln, einmal, damit die schwangere Frau pinkeln konnte, und bald schon erreichten sie das Meer. Der Anblick war für Nadine und Kris ziemlich neu, denn beide waren seit ihrer Gefangennahme nicht mehr von der Wagenburg weggekommen. Die weggeschwemmten Strände, das Wasser, das jetzt da war, wo einst Häuser standen, die eingeknickten Läden und die entwurzelten Bäume. Das alles hatten sie fast schon vergessen.
Mariposa allerdings nicht. Dieser Anblick wie auch die Blitze am Himmel verstärkten nur ihre Erinnerungen an die alte Welt. Als sie ihren Blick über die Landschaft gleiten ließ, hörte sie die Stimme ihrer Großmutter, die alle warnte, die ihr zuhörten. Packt eure Sachen und geht! Das hatte sie von Anfang an gesagt. Wir müssen packen und das alles hier vergessen. Dies ist erst der Anfang. Das Verrückte wird noch verrückter werden, und der Wind wird noch heftiger blasen, und der Regen wird nicht aufhören. Aber niemand hörte auf sie. Ihr Vater hörte nicht darauf, und auch ihre Mutter, ihre Tanten oder Kusinen oder die Leute in der Nachbarschaft nicht. Niemand wollte es wissen, bis die Männer in den Uniformen mit den Maschinengewehren auf dem Rücken kamen und sie in die Busse schafften. Und sogar da gab es noch viele, die es nicht glauben wollten. Es war einfach zu verrückt. Es war völlig irre, wie die Soldaten der Nationalgarde sich zur letzten Evakuation um den Jackson Square aufbauten, die Menschen in die Busse trieben, genau an der Stelle, wo die Einwohner früher einmal in Pferdefuhrwerke gestiegen waren. Frauen und Kinder und Junge und Alte, die sich gegenseitig stießen und schoben, in einem einzigen wahnsinnigen Durcheinander verknäult, während irgendwelche Spinner, die sich in Seitenstraßen, hinter Autos oder auf Dächern verbargen, herumballerten. Und das alles unter einem grauen, von irren Blitzen durchzuckten Himmel. Als würden sie einen Krieg gegen sich selbst führen. Es war eine Situation schon jenseits der Hysterie. Schließlich waren die Busse voll und fuhren los. Die Nationalgardisten schossen aus den Fenstern, Panzerwagen eskortierten den Konvoi, und hinter ihnen blieben Leichen auf den Straßen liegen, die bald vom Sturm hinweggefegt
Weitere Kostenlose Bücher