Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
stellte sie fest, dass sie allein war, und entdeckte, dass es viele Dinge in dieser Welt gab, die man sich nicht ausdenken konnte. Sie hatte diesen Ort und diese Männer und ihre festgezurrten Wohnwagen nie verstanden. Nie hatte sie etwas so Schreckliches heraufbeschwören können wie die Nächte hier, wenn sie sich schlafen legte. Anstatt neue Welten zu erfinden, war ihr Kopf nun erfüllt von sehnsüchtigen Fluchtgedanken. Und von Rachegelüsten. Erfüllt von den Gesichtern all jener, die sie geliebt hatte und die ihr nun fehlten. Und wenn sie wach war, konnte sie sich nur darüber wundern, wo sie sich befand. Und sich fragen, ob wohl jemand nach ihr suchte. Und sich fragen, ob überhaupt noch jemand am Leben war, dem sie wichtig war. Sie war sich sicher, dass ihre Familie noch existierte. Irgendwo. Aber diese neue Welt war so überwältigend, unfassbar und veränderte sich ständig, dass sie sich nur ein unglückliches Ende ihres eigenen Schicksals und das der anderen vorstellen konnte. Das kleine Mädchen mit den Karnevalsfantasien, das sich an Geistergeschichten und Romanzen ergötzt hatte, war zu einer jungen Frau geworden, deren unersättliche Vorstellungskraft von den scharfen Kanten der Realität zurechtgestutzt worden war.
Und dann war sie mit Evan losgegangen, und sie hatten den Mann im Jeep überfallen, und sie war in sein Haus eingedrungen, hatte gesehen, wo er schlief und wo er früher geschlafen hatte und wie er gelebt hatte und an was er sich festhielt. Und sie hatte seinen Schuhkarton mitgenommen, in dem die Schätze seines Lebens lagen, und hatte die Briefe gelesen und den Schmuck betrachtet, und ihre Vorstellungskraft war wieder lebendig geworden. Es war, als sei sie durch eine geheime Tür gegangen und hätte die Hand von jemandem genommen, den sie einst erfunden hatte und den sie nun aus dem Traum in die Wirklichkeit geleitete. Es war, als sei sie wieder dieses kleine Mädchen geworden. Seit sie allein war, seit sie an diesem Ort war, seit sie dazu gezwungen wurde, das zu ertragen, was alle Frauen hier ertragen mussten, hatte sie vergessen, dass sie noch am Leben war und dass ihr Leben ihr gehörte.
Sie hielt seine Hand und führte ihn in den Wohnwagen und zündete auf dem Regal an der Wand eine Kerze an. Cohen stand da, mit der Whiskeyflasche in der Hand, und sie nahm sie ihm ab und stellte sie daneben. Sie trat einen Schritt zurück und zog ihren Mantel aus. Er streckte die Hand aus, nahm eine Strähne von ihrem Haar und ließ sie durch seine Finger gleiten.
Sie flüsterte ihm zu: »Ich kann die sein, die ich für dich sein soll.«
Sie trug ein Baumwollhemd und begann, es aufzuknöpfen, während er ihr Haar hielt und es zwischen seinen Fingern rieb, als wäre es ein Stoff, den er noch nie vorher berührt hatte. Sie knöpfte das Hemd ganz auf und ließ es von ihren Schultern gleiten. Es fiel zu Boden, und der Wind zerrte am Wohnwagen, und das Kerzenlicht flackerte.
Er ließ ihr Haar los und schaute sie an.
Ihr Haar fiel nun um ihren Hals auf ihre Brust. Er schob es zurück und entblößte ihren Hals. Der V-Ausschnitt ihres Kleids reicht bis hinter zu ihren Brüsten.
Cohen trat zurück. Die langen schwarzen Ärmel, das Band um ihre Hüften, das er immer geschnürt hatte, wenn sie es trug. Mariposa zog das Kleid heraus, das sie in die Hose gesteckt hatte, und es fiel über ihre Hüften und reichte ihr bis zu den Knien.
Er schüttelte den Kopf. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Er trat einen Schritt zurück.
»Halt«, sagte er.
»Es ist okay«, sagte sie und streckte die Hände nach ihm aus. Er packte sie an den Handgelenken und drückte ihre Arme hinunter.
»Ich sagte Halt«, wiederholte er mit veränderter Stimme. »Das ist nicht deins.«
»Ich weiß. Ich will es auch nicht haben. Es soll ja ihrs bleiben.«
Er griff nach der Flasche auf dem Regal, hob sie an und trank einen großen Schluck. Dann schaute er sie wieder an.
»Ich möchte nicht so tun als ob«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst, dass ich das will. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie irgendjemand auf so was kommt.«
Ihr erwartungsvolles Gesicht erlosch. Ihre Schultern fielen herab, es sah aus, als würde sie schrumpfen.
»Egal, was du noch hast, ich will es nicht sehen«, sagte er, drehte sich um und ging raus.
Mariposa blieb stehen. Schaute ihren Schatten an. Merkte, dass dies ihre letzte Nacht an diesem Ort war. Am morgigen Abend waren sie schon ganz woanders. Sie zog sich das Kleid
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