Nach dem Sturm: Roman (German Edition)
erreichst?«
Er machte eine Pause und lachte vor sich hin. Seine Stimme wurde selbstsicher und klang spöttisch. Der Wind peitschte gegen die beiden Männer, aber Aggie, der an den Pritschenwagen gefesselt war, schien mit dem anschwellenden Sturm an Kraft zu gewinnen, als könnte er wiederauferstehen. »Falls du es überhaupt bis dorthin schaffst. Du hast gesehen, was wir hier veranstaltet haben, und du hast die Schlösser vor den Türen gesehen. Das ist alles, was du gesehen hast, und mehr sehen sie auch nicht. Was ihr alle nicht seht, das ist, dass ihr am Leben seid, und zwar deshalb, weil ich euch am Leben gelassen habe. Ihr lebt, ihr könnt essen und schlafen, und ich habe euch beschützt und euch das alles gegeben. Das hab ich jedem von denen gegeben, und das könnte ich auch dir geben, aber du siehst ja nur die Schlösser vor den Türen und glaubst, hier sei was falsch, aber das stimmt nicht. Jede von denen war ganz allein oder fast ganz allein und hatte nichts zu essen. Und keinen sicheren Platz zum Leben. Jede von denen wäre längst tot, oder es wäre noch Schlimmeres passiert, wenn wir sie nicht hierhergebracht und uns um sie gekümmert hätten. Du siehst nur die abgeschlossenen Türen, aber ihr werdet schon noch rausfinden, wie es da draußen zugeht, und es wird euch noch leidtun. Das kann ich euch versichern. Und mich habt ihr gekreuzigt. Den Mann, der euch zu essen gab und der weiß, wie man hier draußen leben kann, der eine Familie gegründet hat, die niemand von denen jemals hatte oder haben wird. Und ihr kreuzigt mich und habt nicht mal genug Mitleid, um mir mit dem Dolch in die Seite zu stechen, damit ich verbluten kann. Stattdessen überlasst ihr mich meinem Schicksal, lasst mich verhungern oder von Gott weiß was für Kreaturen auffressen. Dabei habe ich ihnen etwas gegeben, und das werden sie bald schon erkennen.
Wenn es dunkel ist und es keinen sicheren Ort gibt, an den sie sich zurückziehen können, dann werden sie dich ansehen und auf Antworten warten, aber du hast keine gottverdammten Antworten. Du kennst ja noch nicht mal die Antworten auf deine eigenen Fragen. Wenn du sie hättest, dann würdest du nicht so leben, wie du lebst. Du hast keine Antworten für sie und für dich, und morgen, wenn es dunkel geworden ist, dann werdet ihr euch alle nach mir und diesem Ort hier zurücksehnen. Dann wollt ihr zusammenkommen und beten und essen, aber es wird nicht möglich sein. Du willst lieber in der Hölle herrschen als im Himmel dienen, und du willst lieber kreuzigen als lieben. Aber unter euch wird es keine Antworten geben. Keine einzige. Morgen werdet ihr in euren eigenen Tod aufbrechen, und ich werde hierbleiben. Der euch gab und euch weiter geben würde, wenn ihr mich lassen würdet. Aber du willst ja nicht, dass ich das tue. Du wirst mit ihnen durch das Tal wandern, aber ihr habt keinen Hirten. Ihr habt keine Antworten. Und du wirst die Babys umbringen. Und du wirst sterben. Du bist kein Heiler, genauso wenig wie ich, aber ich kann ihnen mehr geben als du. Doch ich schätze, die Frage, ob du lieber leben oder sterben willst, hast du schon beantwortet, indem du mich hier angebunden hast.«
Als er fertig war, wandte er den Kopf ab und schwieg. Als hätte man ihn abgeschaltet. Cohen stand da und wartete ab. Er wusste nicht, wieso, aber er wollte abwarten, ob der alte Mann noch etwas zu sagen hatte. Als Aggie nichts weiter von sich gab, ging Cohen zurück und setzte sich hin. Die friedliche Nacht war jetzt anders geworden.
Und dann rief Aggie mit lauter Stimme durch Regen und Wind nach ihm: »Vielleicht willst du ja sterben, damit du wieder mit deinen geliebten Gespenstern zusammen sein kannst.«
Neben Cohens Fuß stand eine halbvolle Dose Bier. Er griff danach und leerte sie in einem Zug. Dann ging er zum Wohnwagen, in dem die Waffen waren. Das Gewehr mit dem Infrarot-Zielrohr, mit dem Aggie ihn angeschossen hatte, lehnte an der Wand. Er nahm es, fand die dazugehörigen Patronen und lud es. Dann stieg er aus dem Wohnwagen und verließ das Gelände. Er ging immer weiter, bis er nur noch eine Silhouette war.
Er schaute in den Himmel. Wolken rasten vorbei. Cohen wusste, wie schnell das alles kommen konnte.
Er legte das Gewehr an und zielte durch das Infrarotrohr auf Aggie. Ausgebreitete Arme, gesenkter Kopf. Die gleiche Pose wie dieser Gekreuzigte, den Aggie jahrelang benutzt hatte, um seinen wilden und unersättlichen Machthunger zu stillen.
Cohen nahm das Gewehr runter. Irgendwo in der
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