Nach der Hölle links (German Edition)
ihn nie bereuen.
Dennoch sträubte Sascha sich jetzt, Andreas’ Panikattacke beim Namen zu nennen. Nicht, dass er sich dafür geschämt hätte, doch die Situation hatte sich grundlegend verändert.
Andreas war nicht länger gesichtslos für Brain. Sascha war nicht sicher, wie er damit umgehen würde, wenn man allzu offen über seine Schwierigkeiten sprach. Ehrlichkeit war zweifelsohne der richtige Weg, aber es war nicht Saschas Entscheidung, ihn zu beschreiten. Außerdem gab es mehr als einen ehrlichen Pfad. Offen mit seiner Krankheit umzugehen, bedeutete nicht, dass man jedes Tief und jede Panikattacke ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt haben wollte.
Müde streckte Sascha sich und schlenderte zu Brain hinüber. Die Verlockung saß ihm noch in den Knochen. Um ein Haar hätte er die bepackten Autos und seinen Umzug ignoriert, um bei Andreas zu bleiben. Zum einen, um ihn für seine Leistung ausgiebig zu belohnen – mit einer leckeren Pizza zum Beispiel – und zum anderen, weil er selbst erschöpft war. Und gereizt. Und traurig. Und wütend. Auf sich selbst, auf Svenja, auf Nils, auf das Universum, das schuld daran war, dass er mit 22 Jahren wieder bei Mutti einzog.
Sicher, Tanja war nicht seine Mutter. Viel mehr war sie seine coole Tante, eine Vertraute, eine weise Freundin, die ihm gern ein Ohr lieh und guten Rat bereithielt. Aber es war ihr Haus, in dem er leben würde. Ihre Regeln, denen er sich zu unterwerfen hatte; egal, wie locker sie gestrickt waren.
Sascha sehnte sich danach, allein zu leben. Hätte er eine Wahl gehabt, wäre er auf die Suche nach einem winzigen Appartement gegangen. Ein Klo mit Dusche, in dem man sich kaum umdrehen konnte, und ein Zimmer mit Kochnische reichten ihm. Aber selbst solche Räumlichkeiten waren in Hamburg kaum zu bezahlen und noch schwerer zu finden.
Niemand hatte von ihm verlangt, auf Nils’ Provokationen einzugehen. Niemand hatte ihn gezwungen zu brüllen: »Du kleine Attention Whore kannst mich mal kreuzweise. Fahr zur Hölle mit deiner beschissenen Opferhaltung!«
Nein, er war nicht nett gewesen. Sascha hatte vorhergesehen, dass ihn dieser letzte Streit sein WG-Zimmer kosten würde. Dass Nils es, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Schwarzen Brett in der Universität angeschlagen hatte, war eine andere Sache. Was Svenja anging, konnte Sascha sie ein Stück weit verstehen, wenn er sich anstrengte. Im Augenblick wollte er sich allerdings keine Mühe geben, sondern sich verraten fühlen.
»Bringen wir es hinter uns«, seufzte er und rieb sich über die Augen. »Vielleicht ist Fabian ja schon zu Hause und hilft.«
»Ich glaube nicht. Ich habe geklingelt, als ich angekommen bin. Scheint keiner da zu sein«, gab Brain zurück. Das Kofferraumschloss gab endlich mit einem hässlichen Geräusch nach. Es klang, es bräche das Genick eines Kleintiers.
Schicksalsergeben nickte Sascha: »Hatte ich befürchtet.«
»Hast du schon einen Hausschlüssel?«
»Jepp.«
Sascha merkte kaum, wie kurz angebunden er sich gab. Der Schreckmoment, als er begriff, dass Andreas in Panik geraten war, klebte an ihm wie Fliegenpapier. Ihre erneuerte Bekanntschaft war zu frisch, um einschätzen zu können, wo und wann der Freund sich übernahm. Sascha ärgerte sich über sich selbst. Andreas hatte erwähnt, dass er nie wieder nach Hause zurückgekehrt war, nachdem er in der Klinik gewesen war. Zwischen seiner Wut auf Nils und dem Druck des unerwarteten Umzugs hatte Sascha es schlicht vergessen.
Theorie und Praxis. Das grundsätzliche Wissen um die Entstehung und die Mechanismen einer Krankheit bedeuteten nicht, dass man die Gedanken der Betroffenen lesen konnte oder dass man sie je bis ins letzte, grausame Detail verstand.
Vom rationalen Standpunkt aus wusste Sascha, dass er Andreas nicht vor solchen Tiefschlägen bewahren konnte und durfte. Gefühlsmäßig kam es ihm vor, als hätte er bei der ersten Gelegenheit als Freund versagt.
Das Schleppen der Kisten und Möbelbauteile war ein wortkarges Unterfangen. Wie von Brain vermutet, war niemand der Familie Holmes zu Hause. Fabian trieb sich bei einem seiner Freunde herum, Aiden war in diesen Tagen einmal mehr auf Tour, Sina hatte Gitarrenunterricht und Tanja war bei der Probe. Daten und Fakten, die innerhalb weniger Stunden wieder zu Saschas Alltag geworden waren.
Ein ums andere Mal stapften die Freunde die kleine Vortreppe hinauf in den Hausflur und von dort in den ersten Stock in Saschas altes Zimmer. Ein Bilderrahmen ging zu Bruch, als sich
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