Nach der Hölle links (German Edition)
ein Regalteil beim Wenden auf der Treppe verhakte. Scherben wurden aufgefegt, Kartons umhergeschoben und Möbel kritisch beäugt, als die Autos leer waren.
Stirnrunzelnd betrachtete Brain das Chaos in dem großzügig bemessenen Zimmer. Es hatte sich seit Saschas Auszug kaum verändert. Selbst die Poster hatte Tanja an der Wand gelassen.
»Willst du heute noch aufbauen?«
Sascha, der sich rückwärts auf sein Bett fallen ließ, schüttelte den Kopf. »Nee. Ich mache das morgen. Oder in den nächsten Tagen.« Oder gar nicht.
Brain gab ein verständnisvolles Schnaufen von sich und setzte sich falsch herum auf den Schreibtischstuhl. Ernst legte er das Kinn auf die Lehne und betrachtete Sascha, der das Schweigen nutzte, um sich hingebungsvoll die Haare zu raufen. Als der Psychologiestudent nach langen Minuten des Schweigens keine Anstalten machte, sich zu bewegen oder zu reden, bemerkte Brain mit schlecht verhohlener Neugier: »Das war also Andreas, ja?«
»Hmpf«, gab Sascha zurück und war versucht, dem Blick des Freundes auszuweichen. Er sah sich nicht in der Lage, über Andreas zu sprechen, ohne dass man ihm seinen inneren Aufruhr an der Nasenspitze ablesen konnte.
»Und? Läuft da wieder etwas zwischen euch?« Brain ließ nicht locker. »Scheint ein netter Kerl zu sein. Gar nicht … komisch oder so.«
»Wen hast du denn erwartet? Hannibal Lecter? Er hat eine Krankheit, kein getoastetes Gehirn!«, gab Sascha bissig zurück.
Brain ließ sich von dem rüden Tonfall nicht beeindrucken, sondern begann breit zu grinsen und auf seinem Stuhl zu schaukeln. »Oh, ich sehe schon. Auf jeden Fall ist es ein heikles Thema. Du machst dich gut als Wachhund, alter Knabe.« Er ließ die Fingerknöchel krachen. Deutlich ernster fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht jemanden, dem man seine Probleme mehr anmerkt. Jemanden, der mir nicht in die Augen schauen kann oder irgendwie zerschmettert wirkt.«
»Kann ich mir denken. Ist schon okay«, quetschte Sascha durch die Zähne. Abweisend blickte er hoch zur Decke, um Brain nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Er fühlte sich, als hätte er sich in ein paar Dutzend Reißzwecken gesetzt; unausgeglichen und unzufrieden. Zu blöd, dass er just in dieser Minute sein Schwimmtraining verpasste. Die körperliche Anstrengung hätte ihm geholfen, den Kopf freizubekommen.
»Ehrlich, von einem Kerl, der Angst vor Menschen hat, hätte ich irgendwie etwas anderes erwartet«, sinnierte Brain, nachdem er Saschas unausgesprochene Entschuldigung mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan hatte. »Stottern, rot werden, keine Ahnung.«
»Er hat keine Angst vor Menschen«, erinnerte Sascha ihn. »Er hat Angst vor Menschenmengen und öffentlichen Plätzen.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein. Es ist verwandt, aber nicht dasselbe. Agoraphobie bedeutet nicht zwingend, dass man Schwierigkeiten im sozialen Umgang hat. Dass Andreas ein bisschen unsicher in der Nähe von Fremden ist, liegt daran, dass seine Eltern sich nicht um eine Behandlung gekümmert haben. Er war zu lange isoliert. Aber das ist nicht dasselbe wie eine Phobie. Ihm machen Orte Angst, an denen er sich nicht sicher fühlt. Orte, an denen er glaubt, sich nicht darauf verlassen zu können, dass er Hilfe bekommt, wenn ihm etwas zustößt. Was du beschreibst – stottern und so weiter –, ist ein anderes Krankheitsbild. Kommt aber vor, dass sich beide vermischen.«
»Herzlichen Dank, Herr Dozent«, amüsierte Brain sich über Saschas Erklärung. »Verstanden habe ich es immer noch nicht ganz, aber ich glaube, du willst mir sagen, dass sich dein Andreas nicht zu Tode erschreckt hat, weil ich in der Wohnung war. Und das habe ich auch ohne deine Hilfe bemerkt.«
»Depp.«
»Von mir aus. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass du dich nicht wehrst, wenn ich ihn deinen Andreas nenne.«
Sascha knurrte. Die Prägung der Tapete war ausgesprochen faszinierend – und viel ungefährlicher als Brains neugieriger Blick. »Es ist kompliziert, okay? Wir sind nicht zusammen oder so. Dafür ist damals zu viel schiefgegangen.«
»Aber du würdest gern«, brachte der Freund das Problem auf den Punkt. Gnadenlos stocherte er weiter: »Du hast ihn nie richtig aus dem Kopf bekommen, oder? Egal, was wir dir geraten haben.«
Sascha wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er wollte nicht von Liebe oder Bestimmung reden. Dass es ihm manchmal vorkam, als verberge sich in Andreas’ Körper die Seele, die seine eigene
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