Nach der Hölle links (German Edition)
Musikunterricht abgeholt und alle Hände voll zu tun, ihre Tochter zu beruhigen, die wütend auf ihren gar zu strengen Lehrer war. Als Sina endlich Ruhe gab, schlich Tanja in den ersten Stock und öffnete vorsichtig die Tür zu Saschas Zimmer.
Ihr Neffe lag auf seinem alten neuen Bett und schlief. In seinen abgeschnittenen Hosen und mit dem zu lang gewordenen Stachelhaarschnitt sah er für einen Moment nicht älter als der verlorene Junge aus, den sie vor vier Jahren aufgenommen hatte. Er mochte mittlerweile ein erwachsener Mann sein, aber der Schlaf brachte das Weiche auf seinem Gesicht zum Vorschein, das vielleicht nur eine Mutter oder eben Tante sehen konnte.
Bevor Tanja Zeit hatte, sich zurückzuziehen, trampelte Sina die Treppe hoch und drückte sich an ihr vorbei. Ohne Rücksicht auf Verluste sprang das wilde Mädchen aufs Bett und machte Anstalten, Sascha zu erdrücken.
»Oh, ist das schön, dass du da bist. Können wir heute Abend etwas spielen? Oder hey, machst du mir die Hausaufgaben? Zumindest diktieren? Und können wir …?«, plapperte Sina munter auf Sascha ein, der Schwierigkeiten hatte, gleichzeitig wach zu werden und den Worten seiner Cousine zu folgen. Sie überwältigte ihn mit ihren übermütigen Stupsern und Liebesbezeugungen.
Ihr Redefluss kam erst zum Erliegen, als Sascha sie packte und zu kitzeln begann. Dafür kreischte sie in den höchsten Tönen und fiel vor Kichern und Quietschen fast vom Bett.
Tanja lächelte in sich hinein, während sie das Schauspiel beobachtete. Sie war froh, dass die Familie wieder vollzählig war.
Kapitel 27
Er hatte geschlafen, sich einen runtergeholt, trainiert, geduscht und gegessen. Die Unruhe hatte dennoch nicht nachgelassen, sodass Andreas sich am späten Abend den Hausschlüssel geschnappt und aus der Wohnung gestürmt war. Erst, als der milde Sommerwind, dem der charakteristische Duft des Hamburger Hafens anhaftete, ihn auf seinem Spaziergang begleitete, entspannte er sich allmählich. Seine Schritte waren schnell gewesen; getrieben und bockig in ihrem Bemühen, sich etwas zu beweisen, das er während der ersten Viertelstunde seines Marsches nicht in Worte fassen konnte.
Inzwischen saß Andreas auf einer steinernen Bank im Schatten des Mahnmals St. Nikolai. Von den Überresten der neugotischen Kirche ging etwas Tröstliches aus. Sie besänftigte ihn. Er war nicht religiös und fand keinen Frieden im Glauben. Er fühlte sich in Gegenwart der beschädigten Mauern geborgen, weil die Kirche sich trotz der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg ihren Platz im Hamburger Stadtbild bewahrt hatte.
St. Nicolai war eine Ruine. Die Stadt hatte sich damals gegen den Wiederaufbau entschieden und sie stattdessen zum Mahnmal gegen den Krieg erhoben. Man erhielt sie in ihrem jetzigen Zustand. Turm und Mauern standen aufrecht und trotzten grimmig dem Eindruck massiver Zerstörung. Die umgebenden Bäume wirkten in der einsetzenden Dämmerung wie ein menschliches Spalier.
Er fühlte sich frei.
Köninger hatte in der Vergangenheit oft versucht, ihm aufzuzeigen, wie weit er gekommen war. Doch Andreas hatte Schwierigkeiten gehabt, seine Erfolge anzuerkennen. An diesem Abend glaubte er zu wissen, was sein Therapeut ihm vermitteln wollte.
Die Wände der Wohnung hatten ihn eingesperrt, sein Denken und Empfinden eingezwängt. Das Haus zu verlassen, war ihm natürlich erschienen. Dies war nicht sein erster freiwilliger Spaziergang, aber vielleicht das erste Mal, dass er die Vorwärtsbewegung in seinem Leben am ganzen Körper zu spüren glaubte.
Ja, er hatte versagt. Der Plan war gewesen, Sascha beim Umzug zu helfen – bis zum Schluss. Es war ihm nicht gelungen. Andreas verfluchte sich nach wie vor dafür, dass er Sascha seine Schwäche in all ihren dumpfen, hässlichen Farben vor Augen führen musste. Darüber ärgerte er sich.
Dennoch kam er nicht umhin, sich an Saschas Worte zu erinnern: »Ich bin stolz auf dich.«
Nicht mehr als fünf simple Silben, aber sie brannten in Andreas’ Brust und hinterließen heilende Wärme. Sascha war stolz auf ihn. Weil er ihn von der Arbeit abholen und mit ihm zu Mittag essen konnte. Weil Andreas ihn beim Ausräumen seiner Wohnung unterstützt hatte. Immer noch stolz, als Andreas’ Angst überhandnahm und ihn auf der Zielgeraden von der Strecke drängte. Stolz, weil er am Rennen teilgenommen hatte, statt sich zu verkriechen. Weil er es versucht, sich Mühe gegeben und einiges erreicht hatte.
Lange Zeit hatte Andreas allein auf dem
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