Nach der Hölle links (German Edition)
aufgebraucht, als die Panik über ihn hinwegrollte. Sie näherte sich ihm wie ein Tsunami und riss ihn von den Füßen. Was im einen Augenblick spiegelglatter Ozean gewesen war, drang ihm im nächsten mit Gewalt in die Lungen. Er konnte nicht atmen.
Hörbar schnappte Andreas nach Luft. Rechts fanden seine Finger den Griff oberhalb des Fensters, links Saschas Oberschenkel. Er krallte sich in Fleisch und Kunststoff, hörte einen erschrockenen Laut und zweifelte, ob er jetzt und hier ersticken musste.
Nein, würde er nicht. Das wusste er genau. Und trotzdem: Panik. Nur Panik. Er konnte und musste damit umgehen, er hatte keine Wahl. Er konnte atmen, er bildete es sich nur ein. Sein Körper musste nur von dessen Funktionsfähigkeit überzeugt werden. Nach Hause, er wollte nach Hause. In sein Zuhause, nicht in den Käfig, auf den sie zusteuerten. Dorthin konnte er nicht gehen.
Knapp zehn Sekunden waren seit dem Starten des Motors vergangen. Zehn Sekunden, in denen Andreas sicher war, dass er sterben würde, und sein Gehirn wie ein Schnellfeuergewehr Angstgedanken über ihn ausschüttete.
»Oh verdammt«, hörte er Sascha flüstern.
Der Wagen, der gerade erst ins Rollen gekommen war, ruckte und kam zum Stehen. Dann wurde ihm die Hand vom Fenstergriff gelöst und festgehalten. Sein Kopf wurde in Saschas Richtung gedreht, und er hatte ihn vor sich, seinen Ex-Freund. Mit dem Gesicht, das nicht länger zu einem Jungen gehörte. Mit den besorgten Augen und der Schuld, die ihm quer über die Stirn gepflastert stand.
»Ruhig, okay. Ich bin hier«, flüsterten Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam.
»Ich kann da nicht hin«, schauderte Andreas. Jeder Muskel und jede Sehne von seinen Fingerspitzen bis hoch zum Nacken krampfte. Er hielt es nicht aus. »Ich hab solche Angst. Ich kann nicht. Ich kann da nicht hin.«
»Ist okay, shhh, ich fahre dich heim«, wisperte Sascha, der ihm mit einem Mal sehr nah war. Hände, die seine festhielten, ein Kopf, der sich ihm entgegen neigte. »Ein paar Minuten, dann hast du es geschafft. Oder sollen wir in die WG gehen? Der Raum ist leer, wir könnten …«
»Nein!« Andreas schrie fast. Er musste heim. Erst in seinem eigenen Bett würde er wieder atmen können.
Saschas Finger streichelten ihn. »In Ordnung. Ich bringe dich nach Hause. Überhaupt kein Problem. Versuch dich zurückzulehnen.«
»Red nicht. Fahr einfach«, winselte Andreas, während er sich im Sitz zu einer Kugel zusammenrollte. Atmen. Er konnte es. Sascha war da. Sascha würde aufpassen. Nein, ihm würde nichts zustoßen, auch, wenn sein Verstand ihm etwas anderes einflüsterte.
Während der Kleinwagen durch die Straßen schoss, kämpfte Andreas mit sich, die Angst kommen zu lassen. Er durfte sie nicht vertreiben. Musste ihr erlauben, sich zu entfalten, um hinterher zu begreifen, dass sie sich von selbst auflöste. Heute gelang es ihm nicht. Sascha war sein Hemmschuh und gleichzeitig sein rettender Engel. Er verhinderte, dass Andreas sich auf seine erlernten Methoden besinnen konnte, und brachte ihn doch in Sicherheit.
Wann immer Saschas Hand nicht an der Schaltung gebraucht wurde, berührte er Andreas’ zitternde, ineinander geschlungene Hände. Sie waren eiskalt; ein Zeichen, dass der Körper in den finalen Fluchtmodus übergegangen war und die Blutzirkulation in weniger wichtigen Körperteilen vernachlässigte. Todesangst rettete Leben, aber sie war auch anstrengend.
Ruhiger wurde Andreas erst, als die Straßenzüge vor ihnen vertrauter wurden. Eine Plakatwand, an der er jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam, raunte: »Gleich ist es geschafft.« Der Aushang eines nahen Restaurants fügte hinzu: »Du bist fast zu Hause. Mach dir keine Sorgen mehr.« Als sie in seine Straße einbogen, erklärte der Bordstein: »Du bist in Sicherheit.«
Noch bevor Sascha einparkte, konnte Andreas durchatmen. Mit der Luft, die süß und beruhigend in seine Lungen drang, kam die Scham. Zittrig stieß er den Atem aus. Er hatte versagt. Wieder einmal. Und zu allem Überfluss vor Sascha, dem er sich nie wieder schwach präsentieren wollte.
Wütende Tränen schossen ihm in die Augen, als Sascha seinerseits atemlos sagte: »Ich bin so ein Idiot. Ich habe nicht richtig nachgedacht.«
»Es war meine Entscheidung und mein Risiko«, wehrte Andreas erstickt ab. »Ich bin erwachsen. Ich brauche kein Kindermädchen, das mich vor der Welt beschützt.« Es klang entschlossener als er sich fühlte.
Saschas geballte Faust landete auf dem
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