Nach der Hölle links (German Edition)
verschwinden. Immerhin ging es ihn eigentlich nichts an, was wer unter welchem Apfelbaum trieb.
Am Ende war es Andreas, der als Erster in Bewegung kam. Grob schob er Markus von sich und kam umständlich auf die Füße. Schwankend stand er neben dem Baumstamm. Eine Hand tastete nach Halt, die andere fuhr in sein Gesicht, rieb über Augen und Nase. Als er aufsah, leuchtete seine plötzliche Blässe Sascha entgegen. Er sagte kein Wort. Mit Schritten, die ahnen ließen, dass er am liebsten gerannt wäre, strebte er dem Gartentor zu.
Ernüchtert folgte Saschas Blick ihm. Endlich platzte der Korken in seinem Gehirn aus der Verankerung, sodass er denken konnte. Er musste Andreas hinterher, wurde ihm bewusst. Sascha war zu angetrunken und zu aufgewühlt, um sagen zu können, was er empfand. Aber dass Andreas, der seinerseits fleißig dem Alkohol zugesprochen hatte, auf die Straße zustrebte, gefiel ihm nicht.
Mit einem Schnellstart schoss Sascha dem Freund hinterher. Bis er ihn erreichte, wusste er nicht, was er sagen sollte. Doch kaum, dass er Andreas nah genug war, um ihm mit der Hand auf der Schulter zu bremsen, fragte er: »Alles okay? Geht es dir gut?«
Durch Andreas’ Rücken lief ein Zittern. »Lass mich.«
Schlagartig mischte sich Wut in Saschas Besorgnis. Er wusste nicht, woher sie kam, aber ihm dämmerte, dass er Andreas nicht nur gefolgt war, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Er wollte ihm vor das Schienbein treten. Er wollte ihn packen und fragen: »War das nötig? Musstest du es mir ins Gesicht reiben? Du weißt doch, wie es in mir aussieht. War das verdammt noch mal nötig?«
Er sagte es nicht, aber wahrscheinlich sah man ihm an, was in ihm vorging.
Eine rasche Abfolge von Emotionen spiegelte sich auf Andreas’ Zügen wider. Verstockter Ärger, schlechtes Gewissen, Angst, Reue, Unverständnis, Angst, Widerstand und noch mehr Angst. Nichts blieb verborgen. Es war, als würden bunte Glühbirnen auf seiner Stirn aufleuchten. Ein dunkler Rotton für Wut, ein schmutziges Gelb für Reue, ein ekelerregender Grünton für die Angst.
Sascha öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Andreas hob abwehrend beide Hände und wiederholte: »Lass mich … ich muss nach Hause … lass mich einfach in Ruhe. Geh … geh weg.«
»He, ganz ruhig. Soll ich …?«
»Nein!«, fauchte Andreas. In seinen Augen flackerte die hysterische Angst, die eine heranrollende Panikattacke verriet. »Verschwinde. Bitte! Ich … rufe mir ein Taxi. Geh. Weg!«
Aber es war nicht Sascha, der ging. Andreas war es, der auf dem Absatz kehrtmachte und hektisch Raum zwischen sie brachte. Auch dieses Mal rannte er nicht, aber in seine langen Schritte mischten sich unruhige Sprünge, die den Grad seiner Not verrieten.
Sascha wusste nicht, was er tun sollte. Auf der einen Seite kam es ihm unklug vor, Andreas allein seines Weges gehen zu lassen. Auf der anderen Seite fehlte es ihm an Vorstellungskraft, um vorherzusagen, was geschehen würde, falls er sich über dessen Wunsch hinwegsetzte. Und dann – hässlicher und vernichtender als alles andere – wusste Sascha gar nicht, ob er ihm folgen wollte . Er war nicht Andreas’ Kindermädchen. Er hatte ihn nicht guter Dinge mit zu Brains Party geschleppt, um am Ende vorgeführt zu werden.
Jeder wusste, dass Sascha sich nichts mehr wünschte, als mit Andreas zusammen zu sein. Jeder. Kaum jemand sprach ihn darauf an. Aber er hatte über die Jahre zu vielen Leuten morgens um fünf zwischen der vorletzten und letzten Flasche Bier die Ohren vollgejammert, als dass sie nicht wüssten, wer Andreas war. Dass Nils in diesen Tagen umherging und jedem seine Leidensgeschichte klagte, trug zusätzlich dazu bei, dass Saschas unerwiderte Liebe zu seinem Ex zum Allgemeingut geworden war. Nun konnten sie sich das Maul über ihn zerreißen. Über ihn, der nie etwas hatte anbrennen lassen und dem armen, kleinen Nils das Herz gebrochen hatte.
»Scheiße!«, schrie Sascha und trat gegen den Zaun. Ein Holzsplitter löste sich und landete im Gras. Hilflos sah er Andreas hinterher. Hoffte halb, dass der seinen Aufschrei gehört hatte und zurückkam oder sich wenigstens umdrehte. Aber Andreas war auf der Flucht – vor ihm, vor sich selbst, vor Markus, vor der Welt – und bog in diesem Moment um die Straßenecke.
Als Sascha die Hände auf den Zaun legte und sich mit gesenktem Kopf dagegen stemmte, waren seine Finger merkwürdig empfindungslos. Taub wie die Stelle in seiner Brust, die ihm normalerweise sagte,
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