Nach der Hölle links (German Edition)
seiner Eltern hatte stechen lassen. Seltsam, wie gut Sascha sich an dieses Detail erinnerte.
In der Nacht hatten sie zu sechst auf dem Fußboden ihres Zimmers gesessen und Kriegsrat gehalten. Betont cool hatten sie anfangs kräftig über die Verliebte gelästert und sich vorgestellt, was es wohl hieße, mit einem Mädchen zu gehen. Später in der Nacht – der Lehrer hatte sie schon zwei Mal erwischt und ins Bett geschickt, aber sie waren immer wieder aufgestanden – hatte Benjamin eingeräumt, dass er nicht mit dem Mädchen gehen wollte. Aber nur, weil er Sandra Mosemann viel hübscher und toller fand. Nach und nach waren die Jungen damit herausgerückt, welche Mädchen ihnen ins Auge gefallen waren. Sei es, weil sie lustig waren oder weil sie schöne Haare hatten. Der Schutz der Nacht brachte sie dazu, sich diese Geheimnisse anzuvertrauen. Allerdings nur unter der Prämisse, dass man eh keine Lust auf eine Freundin hatte, nie heiraten wollte und dass Mädchen im Allgemeinen und die blöden Kühe in ihrer Klasse im Besonderen schrecklich überflüssig waren.
Man kam am Ende zu dem Schluss, dass Sandra das netteste und interessanteste Mädchen der Klasse, aber die langbeinige Kim Pajak hübscher war, wenn auch doof, weil sie nur Pferde im Kopf hatte.
Sascha hatte seinen Kumpels zugestimmt und weit die Klappe aufgerissen, als es um die Beurteilung des schönen Geschlechts ging. Als er später auf der oberen Matratze des Etagenbetts lag, hatte er gedacht, dass er Benjamin mit seiner Stupsnase, den knochigen Schultern und dem lockeren Mundwerk viel interessanter fand als alle Sandras und Kims zusammen. Aus unerfindlichen Gründen hatte ihn dieser Gedanke erschüttert. Für den Rest der Klassenfahrt hatte er ein komisches Kitzeln im Bauch gehabt, wenn sie an den See gingen und er Benjamin mit nassen Haaren aus dem Wasser laufen sah.
Sie waren längst zu Hause und zurück im Schulalltag, als Sascha für sich ausformulieren konnte, was er immer gewusst hatte: Mädchen waren nicht ansatzweise so spannend wie Jungen. Und wenn er die Wahl hatte, würde er gern einen Jungen küssen. Irgendwann.
Sascha unterdrückte ein Lachen. Er hatte inzwischen viele Jungen und Männer geküsst. Nicht genug, um sich einen Platz auf der Liste der ewig Rastlosen zu sichern, aber ausreichend. Und heute Nacht …
Vorsichtig ließ er sich auf die Seite gleiten und versuchte, im schwachen Licht etwas zu erkennen. Andreas lag von ihm abgewandt und gab leise Schlaflaute von sich; nicht eindringlich genug, um als Schnarchen durchzugehen, aber eben doch nicht still. Das Relief seines Schulterblatts stand deutlich hervor und bettelte darum, geküsst zu werden.
Sascha konnte ihn riechen. Sie riechen. Spüren konnte er Andreas außerdem. In letzter Zeit hatte er immer den aktiven Part beim Sex übernommen. Früher hatte er das wechselseitige Spiel genossen, aber bei Nils und ihm hatte es sich anders ergeben.
Jetzt war er ein wenig wund von ihrem ungestümen Miteinander, aber er würde den Teufel tun, sich zu beschweren. Eigentlich fühlte sich das milde Zwicken in seiner Kehrseite sogar gut an.
Er bedauerte, dass sie nur einmal miteinander schlafen konnten. Es war viel zu schnell vorbei gewesen. Andreas war derselben Meinung gewesen. Da sie aber keine Kondome mehr hatten und nichts in der Welt sie dazu bringen würde, zur nächsten Tankstelle zu hetzen, hatten sie sich mit anderen Dingen vergnügt, nachdem sie verschnauft hatten.
Das Küssen, Anfassen, Wiederfinden, Streicheln und Begutachten hatte Sascha zu einer Erkenntnis gebracht. Andreas’ Entgegenkommen lag wie kühlende Salbe auf den Stichen, die seine Mutter ihm zugefügt hatte. Nichts hatte sich seit dem Nachmittag verändert, aber er sah klarer. Wusste eher, was er erwarten musste. Er konnte nicht behaupten, dass er aktiv darüber nachgedacht hatte, aber ihm war jetzt klar, dass er mit Katja reden musste. Es stand ihr zu, zu erfahren, was ihre Mutter von ihm verlangte.
Inzwischen stand auch außer Frage, dass er sich nicht daran halten würde. Als er in den Bus sprang und zu Andreas fuhr, hatte es einen Moment gegeben, in dem er alles loswerden wollte. Seiner Mutter nachgeben und ihr ihren Willen lassen. Mit der Familie brechen und damit allen weiteren Konflikten aus dem Weg gehen, weil es zu schmerzhaft war, sich dauerhaft diesem Beschuss zu stellen. Aber er würde sich nicht verkriechen. Denn wenn er den Wunsch seiner Mutter erfüllte, stimmte er ihrer Denkweise schweigend zu.
Weitere Kostenlose Bücher