Nach der Hölle links (German Edition)
Es wäre ein Entgegenkommen an deine Eltern.« Er zögerte unmerklich. »Und selbst wenn es kein angenehmer Besuch wird, könntest du dir selbst sagen, dass du dir Mühe gegeben und es geschafft hast.«
Die winzige Pause entlockte Andreas ein trauriges Lächeln. Auch der Therapeut konnte nicht vorhersagen, was geschehen würde, wenn er die Villa betrat, in der er früher festgesessen hatte. Was es ihm antun würde, die vertrauten Türrahmen und Flure vor sich zu haben. Die Treppen, die in sein ehemaliges Zimmer führten. Das Wohnzimmer, das er schon als Kind gehasst hatte.
Daran, wie seine Eltern reagieren würden, wagte er gar nicht erst zu denken. Zu verstörend waren die Ereignisse seines letzten Aufenthaltes in der Villa gewesen. Andreas erinnerte sich an den Tag seiner Flucht, als wäre es gestern gewesen.
In der Bibliothek hatte alles begonnen und gleichzeitig geendet. Zerbrochen an den Vorgängen der letzten Wochen und Monate, an der emotionalen Kälte der Eltern und der Fahnenflucht des Unnennbaren fällte er eine Entscheidung, deren Ausmaß ihm damals nicht bewusst gewesen war: Er bat um Hilfe. Direkt, nachdem er Vater und Mutter zum ersten Mal in seinem Leben angeschrien und für seinen schlechten Gesundheitszustand verantwortlich gemacht hatte.
Dr. Schnieder wirkte an diesem Tag wie ein Mensch, der nicht sicher war, ob er mit den Geistern umgehen konnte, die er selbst beschworen hatte. Immerhin war er es gewesen, der Andreas über die Jahre immer wieder von Therapien, Kliniken und Behandlungsmethoden erzählt hatte. Aber nach kurzer Überwindung hatte der Privatlehrer sich ein Herz gefasst und sich ans Telefon begeben. Andreas erinnerte sich nicht, mit wem Dr. Schnieder im Einzelnen telefonierte und welche Beziehungen er in die Waagschale warf, um ihm zu helfen. Er wusste nur, dass seine Eltern plötzlich im Raum standen und es Streit gab. Es hatte eine Sekunde gegeben, in der Andreas fürchtete, sein Vater könne ihn mit Gewalt im Haus halten. Dazu kam es natürlich nie. Aber die Angst allein reichte, um seine Knie zittern zu lassen.
Letztlich war es ihm wirklich wie eine Flucht vorgekommen, als er mit rasendem Herzschlag in den Wagen seines Lehrers glitt und vor Angst mit den Zähnen klappernd den Sicherheitsgurt schloss. Gleichzeitig war er innerlich taub gewesen – und ein wenig erleichtert, weil es zu Ende ging. Weil er endlich Hilfe bekommen würde.
Nur eine Reisetasche mit Kleidung und eine Zahnbürste begleiteten ihn auf dem Weg ins Krankenhaus. An den Marathon, bis er sich selbst erfolgreich eingewiesen und Stein und Bein geschworen hatte, dass er nicht suizidgefährdet war, erinnerte er sich ebenfalls kaum.
Er wusste nur, dass er abends in einer wildfremden Umgebung war, vor Angst keine Luft mehr bekam und weinte, dass es ihm beinahe die Lunge aus dem Körper riss.
Andreas war nie nach Hause zurückgekehrt. Nicht an den Wochenenden, an denen die Klinik ihm Freigang gewährte. Nicht, als er als halbwegs lebensfähig entlassen und in die ambulante Therapie überstellt wurde. Seine Eltern hatten ihm damals die wichtigsten Dinge in die Klinik gebracht, nachdem der erste Schreck verdaut gewesen war. Seine DVDs, seine Bücher und alles andere, was ihm etwas bedeutete, hatte Andreas später von einer Spedition abholen und in seine neue Wohnung bringen lassen. Manchmal war es doch von Vorteil, ein armes, reiches Kind zu sein.
Eines war geblieben: Die Villa machte Andreas Angst, was paradox war, wenn man überlegte, wie lange sie ihn beschützt hatte.
»Ich bin noch nicht soweit«, gestand er zaghaft, nachdem die innere Reise in die Vergangenheit zum Abschluss gekommen war. »Ich habe das Gefühl, nicht wieder gehen zu werden, wenn ich einmal dort bin. Dass ich mich bequatschen lassen könnte, wieder einzuziehen. Und dass dann alles von vorne losgeht. Außerdem … ich will nicht wissen, wie sie leben. Ich kann das noch nicht.«
Wenn Köninger unzufrieden war, ließ er es sich nicht anmerken. »Gut. Ich kann dich nicht zwingen. Aber wir müssen auf Dauer an deiner Isolation arbeiten. Menschen sind nicht dazu geschaffen, allein zu sein.«
»Wem sagen Sie das?«
»Dir.« Der Therapeut klopfte Andreas aufmunternd auf die Schulter. »Erfolg und Fortschritt genießen sich besser, wenn man jemanden hat, der sich mit einem freut. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob deine Eltern diese Lücke für dich füllen können. Dafür sehe ich bei ihnen selbst zu viel Konflikte. Aber du bist erwachsen. Es wird
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