Nach der Hölle links (German Edition)
Allgemeinen und ihn im Besonderen von Andreas fernzuhalten. Oder von dem Wissen, was mit ihm geschehen war.
Egal, wie oft Sascha aus dem Fenster spähte und in Richtung des Zimmers seines Ex-Freundes blickte: Andreas sah er nie wieder. Und nicht nur er, sondern auch seine Tante nicht, die sich in den folgenden Jahren angewöhnte, ein kritisches Auge auf das Nachbargrundstück zu werfen.
Sascha hielt die Luft an, bis es in seinen Lungen brannte, bevor er betont langsam ausatmete. Der Anblick der Winterfeld-Villa erdrückte ihn. Dennoch brauchte er diesen Moment der Einkehr, bevor er weitergehen konnte. Er musste an Nils und dessen berechtigte Vorwürfe denken. Daran, was er ihm am Abend zuvor wieder einmal an den Kopf geworfen hatte: Dass Sascha nie aufgehört hätte, darauf zu hoffen, etwas von Andreas zu hören.
Nils hatte recht. Sascha fand keine Ruhe, solange er nicht wusste, was aus seiner ersten großen Liebe geworden war. Andreas war wie vom Erdboden verschwunden. Er stand nicht im Telefonbuch, konnte nicht über das Internet gefunden werden und war auf dem Grundstück seiner Eltern seit drei Jahren nicht gesehen worden.
Das konnte im besten Fall bedeuten, dass er aus seinem Käfig ausgebrochen und nach Australien ausgewandert war. Im schlimmsten Fall hatte er in seiner Einsamkeit und Verzweiflung eine Rasierklinge genommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Solange Sascha nicht wusste, was mit Andreas geschehen war, ob es ihm gut ging, fühlte er sich schuldig. Manchmal so sehr, dass er nachts wach lag, dann wieder nur als kaum wahrnehmbares Hintergrundsummen in den Untiefen seines Bewusstseins. Mit den Jahren wurde es besser, die Stimme in seinem Kopf leiser und weniger aufdringlich, aber es hörte nie ganz auf.
Alles, was Sascha sich wünschte, war eine Postkarte mit der Aufschrift: »Du blödes Verräterschwein. Nur, damit du es weißt: Es geht mir ohne dich viel besser. Andreas.«
Kapitel 5
»Dir sitzt dein Geburtstag in den Knochen, kann das sein?«
Die sonore Stimme, die Andreas in den vergangenen Jahren oft Unbehagen bereitet hatte, verfehlte ihre Wirkung dieses Mal. Er hatte sich angewöhnt, tief in sein Innerstes zu lauschen, wenn der Therapeut ein neues Thema ansprach. Gab es dort einen schmerzhaften Widerhall, wusste Andreas, dass sie auf eine Sache gestoßen waren, über die sie reden sollten.
Das Behandlungszimmer hatte mehr von einem Wintergarten als von einer ärztlichen Einrichtung. Die hellen Korbmöbel verschwanden beinahe in einem Meer aus liebevoll gepflegten Pflanzen. Jochen Köninger, falls er sich selbst um die Dekoration des Zimmers kümmerte, schien bei der Verteilung der Palmen, Orchideen und Usambaraveilchen keinem System zu folgen. Die Vielfalt der Pflanzen vermittelte das Gefühl, in einem zahmen Dschungel gelandet zu sein. Die geöffneten Fenster, durch die das Zwitschern der Vögel im Garten zu hören war, verstärkten diesen Eindruck.
»Nein, es ist nicht mein Geburtstag«, erwiderte Andreas leise, bevor er nachdenklich verstummte.
Nach wie vor fiel es ihm oft schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. Manchmal war es ganz leicht, wie ein Sturzbach zu reden oder sogar zu schreien und zu fluchen. Dann wieder kam es ihm vor, als läge eine eiserne Manschette um seine Kehle, die jede Bewegung seiner Stimmbänder eindämmte. Gerade heute fand er kaum Worte, um den Dingen, die ihn quälten, Ausdruck zu verleihen.
»Wie ist es diese Woche denn gelaufen?«, wechselte der hagere Therapeut, der sich in seiner zu weiten Jeans beinahe verlor, das Thema. Er wusste mittlerweile, wie er am besten an seinen Schützling herankam. Ab und an führten Umwege schneller zum Ziel als die Hauptstraße.
Schulterzuckend griff Andreas nach seiner Tasche und holte ein schmales Heft hervor. Er reichte es Köninger. »Ganz gut, denke ich. Fehlt noch ein bisschen was. Das erledige ich heute Abend.«
Auf den Besuch in der Kneipe hatte Andreas bisher keine Lust gehabt, oder vielmehr hatte er sich nicht aufraffen können. Lust hatte er nie. Er fand es erbärmlich, allein vor seinem Bier zu sitzen und die mitleidigen Blicke der Kellnerin zu spüren. Wenigstens befand sich die kleine Kneipe schräg gegenüber seiner Wohnung. Schnell hinein, schnell hinaus.
Prüfend überflog Köninger die Aufzeichnungen der vergangenen Woche. Er stutzte kurz und reichte das Heft anschließend an Andreas zurück. »Das sieht gut aus.« Der Therapeut schob seine randlose Brille höher auf die Nase und lächelte
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