Nach der Hölle links (German Edition)
Unsicherheit fiel über ihn her, als er sich auf die Couch sinken ließ, auf der Stunden zuvor Mandy gesessen hatte. Die Erkenntnis, die er bisher mühsam beiseitegeschoben hatte, setzte sich langsam. Sascha war in seiner Wohnung. Nach so langer Zeit war er aufgetaucht und schien nicht zu ahnen, was er Andreas damit antat.
Denn er tat ihm etwas an, ob Andreas es nun wahrhaben wollte oder nicht. Die Enge in seiner Kehle kam nicht vom Flüstern im Flur. Der beschleunigte Herzschlag rührte nicht vom Treppensteigen her. Sein Magen hüpfte nicht aus Hunger unstet auf und ab. Es lag an Sascha und dem, was sein Anblick in ihm auslöste. Da waren so viel Wut und Schmerz und Enttäuschung und Hass und Bitterkeit und tausend Dinge, die er ihm ins Gesicht schreien wollte. Angefangen bei »Was war so schlimm an mir, dass du gehen musstest?« bis hin zu »Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen und schon wieder Chaos anzurichten?«
Andreas beugte sich nach vorn und raufte sich die Haare. Sein verräterischer Puls trommelte gegen seinen Hals. Er hatte so getrauert, so schrecklich geheult. In seinen Träumen war er tief gesunken, hätte alles für einen winzigen Besuch oder eine Umarmung gegeben. Für Freundschaft, wenn er schon nicht mehr haben konnte. Für eine Karte, einen Brief, ein Schulterklopfen. Nichts hatte er erhalten.
Es war die Hölle gewesen, morgens zu erleben, wie die Post verteilt wurde. Einige Patienten hatten bergeweise Briefe erhalten.
Auch Andreas hatte manchmal Post bekommen. Anfangs von seinem Lehrer Dr. Schnieder und von seinem Großvater, später von Richard, dann irgendwann auch von seiner Mutter und noch später von Ivana, die mittlerweile nicht mehr für seine Familie arbeitete. Sie war gegangen, nachdem er fort war. Warum, hatte er nie erfahren.
Nur Sascha hatte sich nie gemeldet.
Die Badezimmertür klapperte. Gleich darauf war das Tapsen unsicherer Schritte zu hören. Sie kamen näher, verharrten kurz vor der Küche und näherten sich dem Wohnzimmer.
Andreas fehlten die Worte, als Sascha in den Raum trat und sich umsah; gerade lange genug, um die gröbsten Konturen in sich aufzunehmen. Anschließend fixierte er Andreas. Er betrachtete ihn wie ein eigenartiges Insekt, das ihm unter das Mikroskop gekrabbelt war. Etwas Prüfendes ging von ihm aus; gepaart mit der Tiefsinnigkeit, die einem der Alkohol manchmal beschert.
»Du …«, wisperte Sascha und begann zu lächeln. Es fing in seinen Mundwinkeln an, bekam etwas Verschmitztes und verteilte sich anschließend über sein ganzes Gesicht.
Andreas konnte keinen Finger rühren und erst recht nichts sagen. Im Stillen hämmerte er seinen Kopf gegen die Wand, weil er nicht auf Köninger gehört hatte. Wenn er sich vorher bereit erklärt hätte, über Sascha zu reden, hätte er vielleicht Ahnung gehabt, wie er sich jetzt verhalten sollte. Obwohl, ein Gespräch mit seinem Therapeuten wäre sicherlich nicht davon ausgegangen, dass einer von ihnen bei ihrer Aussprache sturzbetrunken war.
Sascha löste sich von seinem Platz und kam langsam auf ihn zu. Schritt für Schritt, in einer sanften Schlangenlinie. Paralysiert beobachtete Andreas ihn. Ihm war, als träume er. Vielleicht tat er das ja auch.
»Andreas …«, raunte Sascha viel zu sanft für die Realität. Auch, dass er sich vor ihn kauerte und die Hand ausstreckte, konnte nicht Teil der Wirklichkeit sein. Sie waren in einem surrealen Universum gefangen.
Lösung des Problems: Er hatte eine Fischvergiftung. Mandys Krabben mussten schlecht gewesen sein. Gab es eine Krabbenvergiftung? Andreas konnte nicht mehr denken. Er fühlte viel zu viel. War verwirrt und vor allen Dingen überfordert. Nichts von dem, was hier geschah, passte in sein zwangsstrukturiertes Leben. Erst recht nicht, dass Sascha mit dem Daumen kaum merklich über seine Wange fuhr und erneut seinen Namen sagte.
Andreas durchlief ein winziger Krampf. Es war drei Jahre her, dass Sascha ihn auf diese Weise berührt hatte. Vorsichtig, wissend und liebevoll. Ihm schwirrte der Kopf. Was ging hier vor sich? Und wie ließ es sich beenden, bevor er seinen Verstand einbüßte?
»So lange«, flüsterte Sascha, als hätte er seine Gedanken gelesen. Seine Stimme legte sich wie Fesseln um Andreas’ Körper. Er war unfähig, den Kopf zu drehen. Nicht einmal, als Sascha sich wieder erhob und ihm immer näher kam, über ihn glitt, konnte Andreas sich rühren.
Die Couch knarrte, als fremde Knie rechts und links von Andreas’ Beinen ins Polster
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