Nach der Hölle links (German Edition)
jetzt? Was tun? Was konnte ihm jetzt noch helfen? Medikamente? Ja. Ja. Ja.
Andreas taumelte in sein Schlafzimmer. Der Anblick seines Bettes, das ihm sonst verlässlich Schutz bot, vermittelte ihm dieses Mal kein Sicherheitsgefühl. Er wühlte in den Schubladen seines Nachttischs. Lange, lange hatte er nichts mehr gebraucht neben den regulären Medikamenten. Seit Monaten hatte er nicht mehr nach dem Lorazepam greifen müssen, das Ängste auflösen konnte. Leider wirkte es nicht sofort. Solange musste er aushalten.
Das Döschen fiel Andreas beinahe aus der Hand, als er eine der winzigen Tabletten herausfischte. Trocken würgte er das Medikament herunter, fetzte sich achtlos die Kleidung vom Leib und kroch mit schlotternden Armen unter die Bettdecke. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen. Kurz bevor er sich das Kissen über den Kopf zog, schielte er zum Wecker. 15 Uhr 34. Zwanzig bis dreißig Minuten. Dann würde es wirken. Eher zwanzig, er hatte nichts gegessen. Ja, das schaffte er. Eine andere Wahl hatte er nicht.
Die Panik kam in Wellen. Jedes Mal, wenn er glaubte, Ruhe gefunden zu haben, begannen die Gedankenwollknäule sich erneut zu verheddern. Dann begann Andreas sich zu fragen, wann man ihn finden würde, falls er hier und jetzt starb. Was die Leute sagen würden, wenn er den Verstand verlor und lachend aus dem Fenster sprang. Wie es wäre, ins Nichts zu tauchen. Was es hieß, nicht mehr da zu sein.
Er konnte sich nicht beruhigen. Nicht ohne Hilfe. Aber er hatte Hilfe, nicht wahr? Ja, er hatte sie schon geschluckt. Sie musste nur noch wirken. Bitte, bitte. Bald. Nur was, wenn er plötzlich eine der vielen Nebenwirkungen entwickelte, die im Beilagenzettel von Lorazepam standen? Was, wenn er Atemnot bekam und niemand – niemand – bei ihm war? Man würde nicht nach ihm suchen. Er würde gehen, ohne seinen Stempel in der Welt hinterlassen zu haben.
Endlos zogen sich die Spiralen durch Andreas’ Geist und löschten jeden Sinn aus. Es gab keine Matratze mehr unter ihm und keine Zimmerdecke über seinem Kopf. Es gab nur den freien Fall, der nach schier endloser Zeit in ein Gleiten überging. Ein Gleiten, das daran erinnerte, dass der freie Fall nicht weiter beängstigend war, solange kein Boden auftauchte, auf dem man aufschlagen konnte.
Nach genau 22 Minuten trat die Wirkung ein und Andreas’ Fuß hörte auf, hektisch unter der Bettdecke zu wippen. Muskel für Muskel entspannte sich; inklusive der verkrampften Gesichtszüge. Ein dankbares Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er sich ausstreckte.
Schlafen. Ja. Ins warme, weiche Dunkel gewiegt von chemischen Händen. Besser. Viel besser.
Als die Angst nachließ und den Zorn mit sich nahm, kurz bevor der Körper nachgab und die dringend benötigte Pause einforderte, dachte Andreas nach. Verschwommene Gedankenkonstrukte schwindelten ihm eine bessere Welt vor und hoben das Positive hervor.
Da war zum Beispiel die Tatsache, dass Saschas Mund sich mit einer Leidenschaft auf seinen gelegt hatte, als hätte er ihn wirklich vermisst. Die Berührung ihrer Lippen hatte so gut getan.
In seinem Rausch konnte er sich die Vorstellung erlauben, was geschehen wäre, wenn Sascha nicht gezwungenermaßen den Porzellan-Gott angebetet hätte. Andreas hatte so lange keinen anderen Mann berührt, dass es in jeder Hinsicht wehtat. Mittlerweile war er an einem Punkt, an dem er sich mit fast jedem Kerl eingelassen hätte, der volljährig war und noch nicht nach Schimmel roch. Chats und das nächtliche Anstarren von Pornos auf einschlägigen Internetportalen konnten das Gefühl von Haut an Haut nicht ersetzen. War es da ein Wunder, dass er reagiert hatte und zugriff, als sich Saschas Hintern an seinen Oberschenkeln rieb? Dass er für ein paar Sekunden vergaß, wen er küsste? Diese Zunge, diese sanfte Zunge, die sich in seinen Mund schob und mit der Innenseite seiner Lippen spielte, konnte er nicht vergessen.
Andreas’ Libido, die seit gestern Nacht schmollend in der Ecke saß und nun angesichts der erlösenden Leichtigkeit verträumt lächelte, würde sich nicht ewig bezähmen lassen. Irgendwann würde er nach draußen gehen und sehen, was er für sich tun konnte.
Über diesen Gedanken dämmerte er weg.
Durch die Einnahme des Medikaments geriet Andreas’ Tagesablauf aus dem Rhythmus. Er erwachte am späten Abend mit knurrendem Magen und dem Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Körperlich war er ausgeruht, aber seine Seele schmerzte und versuchte, die
Weitere Kostenlose Bücher