Nach der Hölle links (German Edition)
ist nicht mehr wichtig.« Andreas’ Händen ballten sich zu Fäusten. Die Sehnen an den Unterarmen traten hervor. Plötzlich stach Sascha ins Auge, wie blass sein unfreiwilliger Gastgeber geworden war. Ein Gespenst war nichts dagegen. »Am Ende zählt nur das Ergebnis. Wie es dazu gekommen ist, interessiert mich nicht. Ich hätte dich gebraucht, und du warst nicht da. Ich bin allein gewesen. Daran habe ich mich gewöhnt. Und deswegen tätest du mir einen Gefallen, wenn du jetzt gehst.«
Sascha wollte nicht. Obwohl Andreas ihn angeschrien und beschimpft hatte, wollte er nicht gehen. Das irre Flackern in dessen Blick machte ihm Angst. Sich einen Idioten schimpfend realisierte Sascha, dass er Andreas mit seinem Auftauchen keinen Gefallen getan hatte. Ein Dutzend Anzeichen sprachen dafür, dass er ihm geschadet hatte, wie Christopher es prophezeit hatte.
Diese im Mahlen seiner Kiefer sichtbare Wut, das Beben seines Körpers, die Stimme, die an Substanz verloren hatte. Die Bisse in die eigene Unterlippe. Das Krampfen seiner Muskeln. Indizien für eine mit Gewalt aufrecht gehaltene Anspannung.
Was würde geschehen, wenn er blieb? Würde Andreas ausrasten? Oder würde er es sich erlauben, ein zweites Mal vor ihm die Beherrschung zu verlieren? Dieses Mal auf eine andere Weise? Auf eine, die von Verzweiflung und Leid sprach statt von Zorn? Würde er sich trösten lassen?
Selbst wenn, du kannst das nicht auffangen. Und er hat recht. Es ist nicht deine Aufgabe. Nicht mehr, erinnerte Saschas Verstand ihn.
Er wünschte, er hätte Andreas nicht so schrecklich enttäuscht. Und er fand es furchtbar, in seinen jahrelangen Befürchtungen bestätigt zu werden. Sein schlechtes Gewissen war keineswegs so übertrieben gewesen, wie andere ihm einreden wollten.
Aber was hatte er erwartet? Andreas konnte es nicht ahnen, aber Sascha wusste, welchen Prozeduren sich jemand mit Andreas’ Krankheit – insbesondere in diesem Schweregrad – unterziehen musste. Er kannte den Sumpf, den er durchschritten hatte, auch wenn er nicht wusste, wie es sich anfühlte, darin gefangen zu sein.
Zum ersten Mal wünschte Sascha sich, Andreas nicht wiedergesehen zu haben. Vorher hatte er sich wenigstens vormachen können, dass kein Groll zwischen ihnen herrschte. Jetzt hatte er bittere Gewissheit.
Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – raffte Sascha seinen Mut zusammen und nickte: »Okay. Ich gehe sofort. Nur … also ich nehme nicht an, dass ich dir meine Handynummer hier lassen soll, oder?«
Es war ein jämmerlicher Versuch, und es brauchte nur einen Blick von Andreas, um ihn scheitern zu lassen.
Widersprüchliche Impulse belasteten Sascha, als er sich abwandte. Sollte er sich nicht doch entschuldigen? Es sah nicht so aus, als hätte das für Andreas eine Bedeutung. Sollte er sich bedanken? Nein, lieber nicht. Dann würde womöglich der Toast nach ihm fliegen. Sollte er …? Gehen. Er musste gehen. Andreas hatte ihn vor die Tür gesetzt, und Sascha musste seine Wünsche respektieren.
Wie in Trance schritt er durch den Flur zur Wohnungstür. Er zwang sich, nicht zurückzusehen. Noch nie hatte ihn jemand auf solch vernichtende Weise zur Schnecke gemacht, selbst seine Mutter nicht. Falls sie es doch versucht hatte, waren ihre Bemühungen an ihm abgeprallt, da er sich im Recht fühlte. Wenn es um seine Studienwahl oder seine Homosexualität ging, konnte sie toben so viel sie wollte. Sie lag falsch und er richtig. Das hier war etwas Anderes.
Im Treppenhaus angekommen schwindelte ihm, doch er nahm es kaum wahr. Mechanisch fasste er nach dem Geländer.
War er hergekommen, weil er diese brutale Ansprache ersehnt hatte? War sein in Alkohol mariniertes Gehirn deswegen auf den Gedanken gekommen, Andreas zu besuchen? Damit der ihm endlich sagte, was für eine miese Made er war? So viel Wut und sogar Hass, von Andreas mit heißen Speerspitzen in Saschas Haut geschleudert.
Unten angekommen verharrte er an der Haustür. Sein viel zu weiches Irgendetwas in der Brust wartete darauf, dass Andreas ihn zurückrief. Offenbar hatte er zu viele schlechte Filme gesehen.
Das Mittagslicht stach Sascha in die Augen, als er auf die Straße trat und unendlich behutsam die Tür hinter sich ins Schloss zog. Die Häuserzeilen schienen einem fremden Universum zu entstammen. In einem Kokon aus unverdauten Eindrücken treibend stolperte Sascha davon. Er suchte nicht nach Bushaltestellen oder der Straßenbahn. Ging lediglich einen Schritt nach dem anderen vorwärts und
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