Nach der Hölle links (German Edition)
Luftfeuchtigkeit drückte auf Andreas’ Kreislauf und verstärkte die Übelkeit, die seit Samstagnacht in seinen Eingeweiden nistete.
Er stolperte über eine Kante im Bürgersteig, als er sich in Bewegung setzte. Seine Füße schienen sehr weit fort von ihm. So mussten sich Menschen fühlen, die durch einen Nervenschaden das Gefühl in den Beinen verloren hatten und trotzdem zu laufen versuchten. Fremdbestimmt, eine Spur hilflos, jeder Schritt ein Unterfangen, für das das Gehirn hart arbeiten musste.
Vorwärts. Kämpfen. Seine Aufgabe erfüllen. Ein Mann sein. Erwachsen sein. Auf in den Kampf, Torero.
Andreas wollte stolz auf sich sein können. Wenn sonst schon niemand zu schätzen wusste, was er leistete, wollte wenigstens er am Ende des Tages sagen können: »Ich habe es geschafft. Ich habe mich nicht wohlgefühlt, und ich habe trotzdem mein Programm durchgezogen.«
Er wollte diesen Sieg, aber als die Bushaltestelle in Sicht kam, war es vorbei. Es gab kein langsames Anschleichen der Angst, kein Trippeln hinter ihm, nichts, auf das er sich vorbereiten konnte. Innerhalb eines Atemzugs war jeder Kampfeswunsch verschwunden und wurde von Todesangst ersetzt.
Das grün-gelbe Bushaltestellenschild verhöhnte ihn. Die wartenden Passagiere waren nicht zu ertragen. Es war unmöglich, mit ihnen einzusteigen und sich gegen ihren Körpergeruch abzuschirmen, damit er sich nicht übergab. Abwegig, dass ihr Bus heute nicht von einer Brücke ins Nirgendwo stürzte. Ausgeschlossen, heute nicht zu sterben, wenn er auch nur noch einen Schritt vorwärts machte.
Andreas machte auf dem Absatz kehrt und rannte.
Kapitel 15
»Du bist ja heute das blühende Leben«, kommentierte Isabell wie üblich eine Spur zu laut. Sie hatte sich immer noch nicht abgewöhnt, ihre mangelnde Körpergröße durch Lautstärke zu kompensieren.
Sascha blickte von seinem Cappuccino auf. Er hatte ihn in den letzten fünf Minuten siebzehn Mal ungerührt, zwei Mal mit Krümeln des trockenen Kekses an der Seite bestückt und mit viel zu viel Zucker ungenießbar gemacht.
»Hm?«, gab er finster zurück, obwohl er wusste, was sie meinte. Ihm war anzusehen, dass er Kummer hatte. Die Fensterscheibe des Cafés bewies ihm, dass er frappierende Ähnlichkeit mit einer Wasserleiche hatte.
»Wenn du anfängst, mit einem Papierhütchen auf dem Kopf auf dem Tisch zu tanzen, sagst du mir Bescheid, ja?«, versuchte Isa zu ihm durchzudringen.
»Damit du weglaufen kannst?«
Sie grinste; froh, eine Reaktion provoziert zu haben. »Nein, damit ich das Handy rausholen kann, um dich zu fotografieren.«
»Tu dir keinen Zwang an«, gab Sascha mutlos zurück. Ein peinliches Foto, das sich rasend schnell im Internet verbreitete, konnte seiner Laune auch nicht mehr schaden. Es gab nur einen Tiefpunkt. Danach ging es nicht weiter nach unten. Es sei denn, man begann zu graben.
Isabell hatte sich verändert. Aus dem ungelenken Vogel Strauß mit den unproportionierten Gesichtszügen war ein ansehnlicher Schwan geworden. Ihre Nase passte mittlerweile zur Größe der Augen, und die einstigen Pickel hatten einer weichen Sonnensprossen-Haut Raum gemacht, die Isa etwas Verschmitztes verlieh. Gerade heute erschien sie Sascha wie eine sphärische Lichtgestalt, die mit ihm um sein Seelenheil kämpfte – im Zweifelsfall auch gegen seinen ausdrücklichen Willen.
Genüsslich nippte Isa an ihrem bis zur Unkenntlichkeit verdünnten Latte macchiato, bevor sie Saschas auf dem Tisch liegende Hand anstupste. »Komm, erzähl deiner liebsten nervigen Ziege, wer oder was dir auf der Seele liegt. Nils? Andreas? Beide?«
Er hatte ihr per Mail von seinem Zusammenstoß mit Andreas berichtet. An Details hatte er gespart, aber er hatte sich seine Gedanken von der Seele schreiben müssen. Isabell war dafür wie so oft der richtige Ansprechpartner gewesen.
Sascha spielte mit dem Zuckerspender, während er überlegte, ob und wie er ihre Frage beantworten sollte. Lag Nils ihm auf der Seele? Ja, natürlich. Sascha war schließlich nicht aus Stein. Es machte keinen Spaß, seinen Ex-Freund in dessen Zimmer schluchzen zu hören und nichts unternehmen zu können. Früher hatte er in solchen Situationen sein eigenes Bett verlassen und sich zu Nils gesetzt; später gelegt. Sascha war gut im Trösten. Aber er konnte nicht helfen, wenn er selbst die Ursache der Tränen war.
Allerdings war Nils’ nächtliche Trauer besser zu ertragen als sein Verhalten tagsüber. Ihre Wohngemeinschaft glich einem Dynamitlager. Ein
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