Nach der Hölle links (German Edition)
Krankenhaus seine alte E-Mail-Adresse abgerufen hätte, um dort Post von Sascha vorzufinden. Post, in der das stand, was er jetzt erfahren hatte. Hätte sich etwas geändert?
»Nein«, flüsterte er brüchig. Der Andreas, in den Sascha einmal verliebt gewesen war, hatte nach der Klinik nicht mehr existiert.
Die Klinik hatte ihn hassen gelehrt. Sie hatte die flexible Gummizelle um seinen Geist aufgeschnitten und ihm den Puffer genommen, der ihm einflüsterte: »Alles, was geschieht, hast du verdient. Du funktionierst nicht, und was immer deine Umwelt tut und sagt, verdienst du.«
Aber sie hatten ihm auch etwas anderes vermittelt. Nie war die Rede von Schuld gewesen, nur von Ursachen, was letztendlich auf dasselbe hinauslief. Von Einsamkeit, die kein Kind ohne Schaden überstanden hätte. Von Erwartungsdruck und Generationenkonflikt, von Lebensvorstellungen, die sich wie unterschiedlich geladene Magnetpole voneinander abstießen. Von Versäumnissen in der frühen Phase seiner Krankheit, die fahrlässig zu nennen waren.
In der Klinik hatte Andreas gelernt, dass sein Schicksal selbst Menschen mit schweren psychischen Störungen schockierte. Er war nicht der Patient mit der kompliziertesten Krankheit, aber mit Sicherheit der, der am wenigsten Hilfe bekommen hatte. Einmal hatte jemand zu ihm gesagt: »Für das, was du erlebt hast, dafür, dass nie jemand für dich da war, ist es erstaunlich, dass du nur Agoraphobie hast und nicht noch drei andere Störungen dazu.«
Diese Aussage – ob sie medizinisch haltbar war, wusste er nicht – hatte ihn zum ersten Mal ahnen lassen, dass er stärker war als er dachte. Glauben konnte er daran allerdings bis heute nicht.
Während Andreas zusah, wie sich die Schleier von den Dächern hoben und Hamburg einem sonnigen Frühsommertag entgegen strebte, fügte er seine Einsamkeit während der Therapien der langen Liste an Dingen zu, die unnötig gewesen waren. Sie war genauso unnötig wie die Tatsache, dass er übermüdet auf dem Liegestuhl lag, statt es sich im Bett gemütlich zu machen und zu schlafen. Aber er wollte draußen sein. Er musste die frische Luft schmecken, denn sie war der Beweis, dass er etwas erreicht hatte.
Andreas wollte genießen und stolz den Kopf heben, um zu sagen: »Ich bin bis hierher gekommen. Kraft meiner eigenen Bemühungen. Ich brauche euch nicht. Ich brauche niemanden.«
Doch er war selten in der Lage dazu. Höchstens, wenn er auf Konfrontationskurs war und sich verhielt wie ein Kater, den man gegen den Strich gebürstet hatte. Dieser Form von Rebellion haftete stets etwas Schales an.
Schal war auch der Geschmack in Andreas’ Mund, als er unruhig nach dem Hauptbrief griff und wohl zum fünfzigsten Mal die Worte überflog, die sich zwischenzeitlich in sein Gehirn gebrannt hatten. Er musste zugeben, dass der Inhalt, die Essenz dieses Briefes, Sascha repräsentierte. Den Sascha, den er einmal gekannt und geliebt hatte. Nicht den eiskalten Hund, der eines Tages zu ihm kam und sich auf Nimmerwiedersehen davonmachte. Man konnte vieles über Sascha sagen, aber nicht, dass er seine Versprechen nicht hielt. Sein Wort war ihm wichtig – und Andreas hatte nur einmal erlebt, dass er es gebrochen hatte: unter großer Not, und für ihn.
Aber nichts – auch kein mit sichtlicher Mühe aufgesetzter Brief – konnte alles rückgängig machen. Niemand war fähig, ihm die verlorene Zeit wiederzugeben. Sascha konnte nicht wieder gutmachen, dass er nicht an seiner Seite gewesen war. Und Andreas’ Eltern konnten nicht rückgängig machen, dass sie ihn knapp zwanzig Jahre lang sich selbst überlassen hatten. Er musste allerdings zugeben, dass zwanzig Jahre deutlich schwerer wogen als drei.
Dennoch. Andreas’ Finger krümmten sich wie die Klauen eines Zombies. Gott, er war so zornig. Er verabscheute die Tatsache, dass Sascha aufgetaucht war und solch ein Chaos anrichtete.
Erst in der Kneipe. Okay, damit konnte Andreas leben. Es war ein Zufall gewesen, für den niemand etwas konnte. Dann der Besuch im betrunkenen Zustand. Gut, er wollte sich in Zukunft Mühe geben, es so zu sehen, dass Sascha sich erklärte wollte und sein Unterbewusstsein die Trunkenheit frech ausnutzte.
Aber jetzt noch dieser Brief, der Andreas aufwühlte, obwohl es ihm eh schon schlecht genug ging. Aber hatte ihn jemand gezwungen, den Brief zu lesen? Er war selbst schuld, wenn er sich damit auseinandersetzte.
Nein. Nein, nein, nein, nein. Er würde seinem Umfeld nicht mehr gestatten, sich aus der
Weitere Kostenlose Bücher