Nach der Hölle links (German Edition)
vergeblich geglättet worden. In diesen Brieffragmenten war vieles durchgestrichen, Sätze mittendrin abgebrochen worden. Die Schrift wankte von Buchstaben, die so ordentlich gezeichnet waren, dass es unnatürlich wirkte, bis zu einem Gekrakel, das Andreas nicht entziffern konnte.
Er konnte sich nicht überwinden, den Brief beiseitezulegen oder gar wegzuwerfen. Nicht einmal den durchweichten, unleserlichen Überrest, der in der Nacht ein Rendezvous mit einer Wasserflasche gehabt hatte, konnte er entsorgen.
Noch nie in seinem Leben hatte er einen persönlichen Brief erhalten. Wie oft er die Zeilen mittlerweile gelesen hatte, konnte er nicht sagen.
Aber er wusste, dass es ihm zu viel war. Zu viel fremde Perspektive, zu viele Fragen, zu viele Emotionen, die ihn aufscheuchten und sein Weltbild auf den Kopf stellten.
Andreas begriff gar nichts. Nur, dass er gestern Abend geweint hatte, bis er sich fast übergeben musste. Wie ein Stahlträger hatte ihn der Brief vor die Brust getroffen und ihm mehr Informationen beschert, als er verarbeiten konnte. Sein Selbst lag in Trümmern; Scherben in allen Gefühlsschattierungen, die der menschliche Geist erzeugen konnte.
Womit hatte er gerechnet? Mit Ausreden und Vorwürfen, mit Beteuerungen, aber nicht damit, dass Kontakt zu ihm gewünscht wurde. Nicht mit einer Telefonnummer, die er benutzen sollte. Vor allem nicht mit dieser gänzlich neuen Perspektive und damit, dass sich grelle Scheinwerfer auf sicher geglaubte Fakten richteten und sie unglaubwürdig machten.
Mechanisch griff Andreas nach einem Brieffragment, das in der Mitte durchgestrichen worden war. Verschmierte Kugelschreiberstreifen machten es unmöglich, die Buchstaben im Einzelnen zu erfassen. Aber man konnte genug entziffern, um die Botschaft zu verstehen:
» Wenn ich gewusst hätte, dass Du in der Klinik bist, hätte ich Dich besucht. Ich hätte Dich nicht allein gelassen. Ich bin nicht der verantwortungslose Arsch, für den Du mich hältst. Oder glaubst Du echt, dass ich gegangen bin, ohne mich je umzusehen? «
Ja, das hatte Andreas geglaubt. Immerhin hatte er nie ein Sterbenswörtchen von Sascha gehört. Hatten seine Eltern wirklich die Kontaktaufnahme verhindert? Sie und ihre neue Haushälterin? Andreas war schockiert gewesen, als er nach dem Klinikaufenthalt erfahren hatte, dass Ivana nicht mehr für sie arbeitete. Sie hatte die von Winterfelds auf eigenen Wunsch verlassen, nachdem sie sich zunehmend unwohl in der Villa fühlte – und Andreas fort war.
Er senkte den Kopf. Ivana hätte Sascha nicht ohne Erklärung fortgeschickt. Sie hatte gewusst, was sie einander bedeuteten. Er hob einen anderen Brieffetzen und las ihn mit gerunzelter Stirn.
» Ich wünschte, ich könnte beweisen, dass ich versucht habe, Dich zu erreichen. Aber Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Nicht mal Deine Mailbox existierte noch. Du hast keine Ahnung, was für eine Angst ich um Dich hatte. Ich dachte, Du hättest … «
An dieser Stelle endete der Text, doch Andreas wusste, was gemeint war. Sascha hatte befürchtet, dass er sich für eine finale Lösung entschieden haben könnte. Und wenn Andreas ehrlich zu sich war, hatte es ein verschwindend kleines Zeitfenster gegeben, in dem er mit dem Gedanken gespielt hatte. Die Vorstellung, sein elendes Dasein in einen Zustand des Friedens zu überführen, war reizvoll gewesen.
Vor drei Jahren hatte er vor der Entscheidung gestanden, ein Ende zu erzwingen oder einen neuen Anfang zu wagen. Damals, als er mitten in der Nacht vor seinem Rechner saß und nach und nach alle Inhalte löschte, war er erwachsen geworden.
Während er ein Spiel nach dem anderen deinstallierte, seine Accounts bei den diversen Herstellern kündigte und zuletzt seiner E-Mail-Adresse den Hals umdrehte, war er ganz ruhig gewesen. Spielstände, die verloren gingen, kümmerten ihn nicht mehr. Er wusste nur, dass er hinter sich aufräumen musste, bevor er sein Elternhaus verließ. Da er nur in der virtuellen Welt ein oder zwei Fußabdrücke hinterlassen hatte, war das Vernichten seiner Internet-Existenz das einzige, was er tun konnte, um einen Schlussstrich zu ziehen. Hinzu kam, dass er nicht noch Wochen, Monate oder gar Jahre später alle paar Minuten seine E-Mails abrufen wollte, in der Hoffnung, dass Sascha sich bei ihm meldete. Da war es besser gewesen, die Leitung stillzulegen.
Wie es aussah, hatte er einen Fehler gemacht. Andreas versuchte sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn er nach der Zeit im
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