Nach der Hölle links (German Edition)
Ganze zu entfernen, bevor er es vergaß und am nächsten Morgen von einem Schwarm Eintagsfliegen begrüßt wurde. Außerdem war es lächerlich, die Küche nicht betreten zu wollen. Vielleicht sollte er den Abfall nach unten bringen, dann wäre die Verlockung ein für alle Mal verschwunden.
Etwas in Andreas wollte den Brief öffnen und verstehen, was vorgefallen war. Wollte begreifen, warum Sascha ihn im Stich gelassen hatte und vor allen Dingen, warum er nach all der Zeit nicht aufgab. Was wollte Sascha ihm unbedingt mitteilen?
Er wird sich entschuldigen wollen, dachte Andreas für sich. Vielleicht baut er auf Vergebung. Wenn ja, konnte er vergeben? Nein, nicht mit jeder Faser seiner Seele. Aber er könnte es sagen. Er könnte Sascha zu verstehen geben, dass es vorbei war, für sie beide. Dass es keinen Grund gab, nach hinten zu schauen.
Andreas fühlte sich eigenartig, als er sich die leere Flasche und den Becher schnappte und in die Küche ging. Seit wann war ein Raum seiner eigenen Wohnung ein feindliches Gebiet für ihn? Verseucht, verlockend, nicht sicher. Er musste den Umschlag loswerden. Die Fantasie zeichnete rot blickende Pfeile um sein Sichtfeld, die zwinkernd auf den Mülleimer deuteten.
»Komm schon, was ist denn dabei? Gönne ihm halt das Vergnügen, dich erreicht zu haben. Um der alten Zeiten willen«, raunte der gutherzige Andreas in ihm.
»Was dabei ist? Er wird uns wieder wehtun. Das muss nicht sein. Warum sich quälen? Wir haben genug Sorgen!«, erwiderte sein bis zur Unkenntlichkeit zerschmettertes Selbstwertgefühl, das Ursprung so vieler Ängste war.
»Aber wenn wir wissen, was in dem Brief steht, können wir Sascha hinterher in aller Ruhe zur Schnecke machen. Wir können uns über ihn ärgern und ihm sagen, was für ein Penner er ist. Außerdem wollen wir nicht feige sein. Wir wollen nicht weglaufen. Wir wollen Größe beweisen und den Brief lesen«, fauchte die zornige Finsternis in ihm, die oftmals Quelle seiner Kraft war.
Neugier richtete sich auf die Hinterbeine auf und schrie: »Ja! Lesen, lesen, lesen! Mir doch alles egal. Ich will wissen, was da drin steht.«
Damit war Angst überstimmt. Finsternis ließ Andreas zum Mülleimer stampfen. Herz entnahm den Brief und wischte die Erdbeerreste ab. Neugier war es, die den Umschlag aufschlitzte.
In Erwartung emotionaler Tiefschläge ging Andreas in die Hocke, bevor er zu lesen begann. Mit dem Backofen im Rücken konnte er wenigstens nicht umfallen.
Lieber Andreas,
wenn Du bis hierhin gekommen bist, lass mich schon einmal Danke sagen, dass Du den Brief nicht gleich zerrissen hast. Ich könnte es verstehen. Der Grund, warum ich Dir schreibe, ist, dass ich Dir viel zu sagen habe, aber akzeptieren muss und werde, dass Du mich nicht sehen willst. Ich will Dir die Wahl lassen. Klar kannst Du jetzt sagen, dass Du eigentlich keine Wahl hattest, weil der Brief ja nun einmal in Deinem Briefkasten lag. Aber ich hoffe einfach darauf, dass Deine Bereitschaft, den Brief zu lesen und mir zuzuhören, ein gutes Zeichen ist.
Vorneweg ein dickes Sorry. Ich schätze, es wird etwas wirr werden. Das hier ist der 16. Briefanfang an Dich. Ich war schon immer mies im Briefeschreiben und bei Dir fällt es mir besonders schwer.
Okay, von vorne. Erst einmal: Ich schreibe Dir nicht, weil ich um Deine Vergebung bettle oder weil ich Dir einreden will, dass ich damals alles richtig gemacht habe. Habe ich nicht. Ich habe mich bescheuert benommen, und das weiß ich. Ich war ein Feigling, und ich habe Dich hängen lassen. Nichts, was ich schreibe, kann daran etwas ändern.
Vielleicht möchtest Du ja trotzdem wissen, was passiert ist und wie ich die Dinge heute sehe. Anbei möchte ich auf jeden Fall, dass Du meine Telefonnummer hast. Ich weiß, dass Du sie vermutlich nie benutzen wirst. Aber ich habe Dir mal versprochen, dass ich immer für Dich da sein werde. Und dazu stehe ich. Wird auch langsam Zeit.
Gut. Zuerst will ich Dir sagen, dass ich ganz bald bereut habe, was ich angestellt habe. Oder nein, ich muss noch früher anfangen. Andreas, ich hatte total Angst. Nicht vor Dir, aber vor dem, was da zwischen uns passierte. Wir wissen beide, dass es nicht nur wildes Gevögel war, oder? Es war richtig ernst und eng und riesengroß. Und ich hatte Angst davor, weil Du so krank warst und keine Hilfe hattest außer mir. Aber ich will ehrlich sein: Ich wäre vermutlich auch so irgendwann gerannt. Der ganze Mist mit meinen Eltern, das Abitur und die fremde Stadt. Und dann
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