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Nach Diktat verblichen

Nach Diktat verblichen

Titel: Nach Diktat verblichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. A. Fair
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Schwester folgen. So etwas kann nur einer Frau auffallen. Jetzt, da sie mich darauf hingewiesen hat, sehe ich es selbst. Großvater ist der Schwester sehr zugetan. Der Gedanke, daß Hortense das ausnützen könnte, ist zwar absurd, doch C. behauptet steif und fest, genau das wäre H.s Absicht. Es stimmt schon, Großvater ist nicht mehr der Mann, der er war, weder geistig noch körperlich. Er ist kindisch, leicht gereizt, und doch ist er trotz seiner Invalidität für weibliche Reize offensichtlich noch sehr empfänglich. Der alte Mann muß in seiner Jugend ein rechter Draufgänger gewesen sein. Kein Wunder, daß sich die Familie so viele Geschichten über ihn erzählt. Lieber Gott! Wäre es nicht fürchterlich, wenn es H. zu dieser späten Stunde gelingen würde, ihn in ihre Klauen zu bekommen und ihn zu überreden, sein Testament zu ändern... Ich will diese Gedanken gar nicht aufkommen lassen, doch es wäre unwahr, wenn ich behaupten wollte, daß C.s Bemerkungen mich unberührt lassen.«
    Unter dem Datum des folgenden Tages war nur eine kurze Notiz verzeichnet: »C. hat mich rufen lassen. Ich habe mich geweigert, das, was ihr vorschwebt, auch nur in Erwägung zu ziehen.«
    Der Tag danach: »C. mag recht haben, aber ich kann ihren Vorschlägen nicht zustimmen.«
    Der folgende Tag: »Als C. ins Zimmer trat, küßte Großvater H. Sie saß auf dem Rand seines Bettes. C. ist außer sich. Sie hat mich überredet, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.«
    Die Eintragung des folgenden Tages war kurz und einfach: »Großvater ist heute morgen um halb zehn Uhr gestorben.«
    Unter dem Datum des nächsten Tages fand sich keine Eintragung.
    Die Notiz auf dem folgenden Blatt lautete: »Das Telefon hat den ganzen Tag geläutet. Ich weiß, daß es C. war, und habe mich nicht gemeldet. Ich kann gewissen Dingen einfach noch nicht ins Gesicht sehen.«
    Am Tag danach: »Die Beerdigung. Ich werde niemals die Empfindungen vergessen, die mich überkamen, als ich vor Großvaters Sarg stand und in sein lebloses Gesicht blickte, wächsern und streng und so schrecklich still. Was hätten all die Trauergäste wohl gedacht, wenn sie hinter die Fassade hätten blicken und unsere Gedanken hätten lesen können? C. war die vom Schmerz übermannte Enkelin, tränenüber- strömt, aber dennoch tapfer in ihrem Kummer. Frauen sind unergründliche Geschöpfe.«
    Am folgenden Tag: »Ich wünschte, ich hätte niemals vor dem Sarg gestanden und in Großvaters Gesicht geblickt. Vor Jahren, ehe er alt und schwach wurde, hatte ich stets das Gefühl, daß diese blauen Augen jeden Menschen durchdringen können. Er war gerecht und erbarmungslos in seinem Urteil über andere, unbeugsam in seinem gerechten Zorn, hart in seinem Urteil. Ich hatte geglaubt, daß ich, wenn diese Augen erst für immer geschlossen waren, ohne jenes seltsame Gefühl innerer Angst in sein Gesicht blicken könnte. Doch selbst das tote Gesicht mit den geschlossenen Augen verfolgte mich unablässig. Ich habe das befremdliche Gefühl, daß Großvater zwar tot, daß er aber nicht aus meinem Leben gegangen ist. Ich habe nur eine Stunde geschlafen und erwachte dann schweißgebadet. Mir war, als hätte sich Großvater über mein Bett gebeugt, als hätten seine Augen mich unverwandt und beharrlich angesehen.«
    Am folgenden Tag: »Heute wurde das Testament verlesen. Es entsprach unseren Erwartungen. Nichts für Hortense. Sie war natürlich nicht zugegen, doch ich hörte, daß sie den Notar unter einem Vorwand anrief — wahrscheinlich wollte sie herausfinden, ob Großvater sie in seinem Testament bedacht hatte. Doch sie hatte nicht genug Zeit, ihn an sich zu fesseln. Mir wird jetzt klar, wie recht C. hatte.«
    Aus den folgenden Eintragungen, die ich nur flüchtig überflog, trat zutage, daß sich in George Cadott eine seltsame Wandlung vollzog. Eine der Eintragungen lautete: »Ich habe jetzt gelernt, daß die Seele nur durch Sühne gereinigt werden kann. Es ist ein tröstlicher Gedanke, daß jene unter uns, die gesündigt haben, den anderen Inspiration und Führer sein können auf dem Weg der Tugend. Ich genieße eine gewisse Sicherheit und finanzielle Unabhängigkeit. Also werde ich mein Leben der Sühne widmen.«
    Sechs Monate nach dem Tod seines Großvaters und nach einer Reihe von Aufzeichnungen, die klar zeigten, daß George Cadott immer mehr zum Fanatiker wurde, fand ich die letzte Eintragung. »Lois will sich scheiden lassen«, stand da. »Das ist das Ende.«
    Als ich meine Lektüre

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