Nach Hause schwimmen
Treibenlassen in der Stadt der Selbstmörder, von gescheiterten Anläufen einer Rückkehr ins Leben und misslungenen Versuchen meines Verschwindens aus der Welt. Das meiste, was ich erzählte, erschreckte Alice. Ich brachte sie aber auch beinahe zum Lachen, als ich Sams Petition gegen die Ziegen erwähnte und Mazurskys Auftritt an Spencers Beerdigung beschrieb. Wir tranken Kaffee, und um Mitternacht machte Alice Pfannkuchen, weil wir beide das Abendessen vergessen hatten.
Alice hörte einfach nur zu. Wenn ich stockte, saß sie da und wartete, bis ich fortfuhr. Dann war die Reihe an ihr. Sie hatte damals gedacht, ich würde ein paar Tage für mich alleine brauchen, mich irgendwann bei ihr melden und zurückkommen, wenn ich so weit wäre. Nach einer Woche begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen, aber Ernest und Rebecca meinten, ich sei jung und durch die Begegnung mit meinem Vater verwirrt, aber bestimmt wohlauf. Zehn Tage wartete Alice, dann ging sie zur Polizei, wo man ihre Angst um mich nicht sehr ernst nahm und ihr riet, Geduld zu haben. Von Typen wie mir wimmle es in New York City, sagte man ihr, ich würde entweder nie mehr auftauchen, irgendwann gefunden oder bald von alleine nach Hause kommen.
Harold, Louise und George kamen zu Besuch, und Harold verbrachte mehrere Tage damit, in einem Mietwagen durch Brooklyn zu fahren und nach mir zu suchen. Im Reformkostladen und in Alices Geschäft hingen Plakate mit meinem Bild, und diesmal gab es für Hinweise auf meinen Verbleib zweihundert Dollar Belohnung. Aus Sorge, nicht da zu sein, wenn ich mich blicken ließe, verschob Alice ihre Reise nach Florida, wo Trevor und Clive auf sie warteten. Alice hatte ihnen nichts von meinem Verschwinden erzählt und holte es nach, worauf die beiden unverzüglich nach New York fliegen und eine groß angelegte Suche starten wollten. Nur die von Alice erwogene Möglichkeit, ich könnte mich nach CapeCoral durchschlagen und bei ihnen klingeln, vermochte sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Alice und Nathalie waren einen Tag nach meiner Flucht mit meinem Vater zu einem Arzt gegangen. Der Schlaganfall hatte sein Hirn geschädigt, seine linke Seite gelähmt und ihm die Sprache genommen. Von Verna Kerkowskis Geld wurde eine zweiwöchige Therapie in einer Klinik bezahlt. Der Zustand meines Vaters hatte sich kaum verändert, aber immerhin hatte er ein wenig an Gewicht zugelegt. Das erste Wort, das er von sich gegeben hatte, war Ball. Hätte man ihm ein anderes Wort eingetrichtert, hätte er es ebenfalls irgendwann nachgesprochen. Das Gute an dem Schlaganfall war, dass mein Vater sich nicht mehr betrinken wollte. Vielleicht hatte sein beschädigtes Hirn schlicht vergessen, dass es früher von dem brennenden Gedanken angetrieben worden war, sich mit Alkohol zu tränken. Falls er körperliche Entzugserscheinungen gehabt hatte, waren diese wahrscheinlich in den ersten Wochen aufgetreten, als er in seinem Zimmer lag, von Verna ins Bett gesteckt, als habe ihn bloß eine Grippe erwischt.
Die Ärzte meinen, mein Vater würde nie mehr derselbe sein wie früher, aber da ich nicht weiß, wie er früher war, gibt es nichts, worum ich trauern könnte. Dass er mich vielleicht nie erkennen und mir nie erzählen können wird, warum er mich damals im Stich gelassen hat, muss ich wohl hinnehmen. Meine Fragen und meine Wut werde ich für mich behalten müssen. Dreimal in der Woche übt er in der Klinik mit einer Therapeutin so simple Dinge wie das Ergreifen und Festhalten von Gegenständen oder sich zu kämmen. Jede Woche lernt er ein neues Wort, vielleicht auch irgendwann Will oder Sohn. Ob er jemals die Bedeutung dieser Worte begreifen wird, können die Ärzte nicht sagen.
Bevor ich mich in meinem Zimmer ins Bett legte, um schlaflos an die Decke zu starren, fragte ich Alice nach Aimee. Sie rief vor ein paar Wochen hier an und sagte, sie wisse, wo ich sei, und es gehe mir gut. Obwohl Alice sie anflehte, ihr meinen Aufenthaltsort zu verraten, schwieg Aimee und meinte, ich würde mich zu gegebener Zeit melden, jedenfalls hoffe sie das. Sie fragte nach Lennard Sandberg, und Alice erzählte ihr von der Suche nach meinem Vater und dem Schlaganfall und meiner Reaktion auf alles.
Wir halten vor dem Haus mit der Flagge, und der Himmel ist so blau und hell, dass ich beim Betreten der Eingangshalle das Gefühl habe, in eine dunkle Gruft zu taumeln. Ich schwitze und bringe es nicht fertig, in den Fahrstuhl zu steigen, und so nehmen wir zusammen die Treppe in den
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