Nachdenken ueber Christa T.
zu.
Das hört nicht auf.
Christa T. fühlt eine Kälte den Rücken hochsteigen, bis in den Kopf. Sie wendet sich ab, geht weg. Nicht Ekel kommt – Trauer. Später laufen ihr auch die Tränen übers Gesicht, sie hockt sich auf den Ackerweg und weint. Irene holt sie nach langer Zeit zurück. Sie arbeiten schweigend bis zum Mittag.
In den nächsten Tagen, als sich ihr befremdendes Verhalten herumgesprochen hat, spricht der Biologielehrer sie auf dem Gang an: Ich wundere mich über Sie, Kollegin. Ich denke, Sie sind vom Lande. Und da weinen Sie um eine Kröte?
Wie ich eben in ihren Notizen blättere, finde ich noch einen Zettel, den ich früher übersehen hatte. Er gehört zum Krötenmanuskript. »Möglicher Schluß« steht darüber. Er zeugt davon, daß sie sich mit der nackten, wahren Wirklichkeit nicht abfinden wollte. Sie läßt die Kochfrau aus dem Dorf auftreten. Vor dem Mittagessen soll sie zu ihr, Christa T., gesagt haben: Was ist denn bloß passiert, Fräulein? Der Lange, Kraushaarige, der mit dem komischen Namen, liegt oben im Stroh und heult. Erst kam er mit ganz wildem Gesicht hereingelaufen und hat sich wie toll überm Becken die Zähne gebürstet und den Mund gespült. Dann hat er sich ins Stroh geschmissen, jetzt heult er wie ein kleines Kind.
Diesen Schluß – wie mag sie ihn sich gewünscht haben. Wie stimmen wir im Innersten überein mit allen, die solche Schlüsse, je weniger sie stattfinden, um so heftiger begehren. – In Wirklichkeit passierte das Wahrscheinlichere: Ihr Direktor ließ sie rufen. Kaffee wurde ihr diesmal nicht angeboten. Die Eltern des Schülers, den sie Hammurabi nennen, haben sich über sie beschwert: Verletzung ihrer Aufsichtspflicht während der Arbeit auf dem Acker. Und hatten sie nicht recht? Nicht daß ich Sie direkt tadeln will, sagte der Direktor. Sie fangen erst an. Sagten Sie nicht selbst, der Arbeitseifer dieses Hamm-, nun ja, des Wilhelm Gerlach, war über jeden Zweifel erhaben? Er war einer der Fleißigsten? Also! Dagegen, denk ich doch, verblaßt diese alberne Geschichte mit der Kröte. Immerhin: Dafür, daß unsere Schüler in unserem Beisein wenigstens kein Ungeziefer essen, müssen wir die Verantwortung schon übernehmen, nicht wahr?
Fleißig und roh ist er, sagte sie zu mir. Er hat nur Glück,daß er hier lebt. Anderswo wäre er – sonstwas. Sein Typ ist noch gefragt. Wenn wir uns bloß nicht täuschen lassen von seiner Tüchtigkeit! Denn – wohin würde das führen?
Darauf konnten wir uns keine Antwort geben, wir wußten auch zu wenig von der ausgleichenden Wirkung der Zeit.
Szenenwechsel, Sprung von sieben Jahren, die Chronologie stört. Da sitzt sie noch einmal einem ihrer Schüler gegenüber, im Rilagebirge, im Klosterrestaurant, hierher ist sie mit Justus, ihrem Mann, gefahren, es ist ihre letzte und einzige große Reise. Der junge Mann, der sich ihnen nähert, ist Mediziner, im letzten Semester, er stellt sich vor: Sie erkennen mich nicht? Er hat Christa T. mit ihrem Mädchennamen angeredet. – Ich war der, der immer »nämlich« mit »h« geschrieben hat, bis Sie mich durch den Vergleich mit »dämlich« kurierten. So muß ich jetzt immer an Sie denken, wenn ich »nämlich« schreibe. Gestatten?
Er setzt sich mit seiner Braut an ihren Tisch. Die Braut könnte nicht schöner und eleganter sein, auch sie wird Ärztin werden. Christa T. staunt, und ihr ehemaliger Schüler ist zufrieden. Er kennt die Gerichte, die man ihnen bringt, er gibt ein zutreffendes Urteil ab, ohne rechthaberisch zu sein, er hat Humor, er steht über den Dingen, er ist überhaupt so unrecht nicht. Er bekennt, daß Christa T., wenn sie nur länger an seiner Schule geblieben wäre, seine Lieblingslehrerin hätte sein können. Setzt aber freimütig hinzu: daß es dazu nicht gekommen sei, habe auch seinen Vorteil. Sie habe doch gar zu unpraktische Anforderungen gestellt. – Ja? fragt Christa T. Ich erinnere mich nicht. – Nur ein Beispiel,sagt ihr ehemaliger Schüler, dieses Dichterwort, das Sie uns mal vorgelesen haben. Ich weiß nicht mehr, von wem. Über die halb reale, halb phantastische Existenz des Menschen. Das ist mir direkt nachgegangen. – Gorki, sagt Christa T. Also es hat Sie beunruhigt. – Bis ich studierte, sagt der Medizinstudent. Bis mir klar wurde: Die reale Existenz des Menschen hat mir als Arzt zu genügen. Und wir haben ja auch weiß Gott einiges mit ihr zu tun. Bloß eben, als ich Sie erkannte, fiel mir Ihre »phantastische Existenz« wieder ein.
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