Nachhaltig tot (German Edition)
benehmen, wie eine naive Gans. Ich würde ihn beobachten und dann entscheiden, ob ich meine Verkleidung fallen ließ oder nicht.
Ich wählte rasch eine Tarnkleidung aus: eine elegante, schwarze Hose und den Ballonmantel meines Vaters und den Hut mit breiter Krempe von meiner Mutter. Ich schminkte mich wild und grell, besonders meine Lippen, die dadurch doppelt so breit wurden wie sonst. Ich nahm meine eigene Sonnenbrille. Meine Eltern hatten ihre Brillen nach Mauritius mitgenommen. Außerdem konnte man gar nicht wissen, dass sie mir gehörte.
In einen großen Koffer warf ich den Inhalt des dritten und vierten Bücherregalbodens und damit war ich fertig. Ein Blick in den Spiegel: Jesus! – Aber es war zu spät, mir einen Plan B zusammenzustellen, ich musste doch zeitig auf Gleis 7 sein!
Der Bahnhof ist am anderen Ende der Stadt. Ich musste fünfmal umsteigen und den blöden Koffer fünfmal hoch- und runterschleppen. Ich verfluchte alle Verkehrsmittel, weil sie keine Rampen für Koffer hatten. Ich verfluchte mich, weil ich den Koffer nicht mit einem Kopfkissen ausgestopft hatte. (Oder hätte ich ihn auch ganz leer lassen können?)
Ich ging natürlich am Gleis 6 entlang. Von dort beobachtete ich die Wartenden. Es waren meistens Paare, ich sah nirgendwo einen jungen Mann alleine. Gegenüber dem Sektor E blieb ich vor der Glasvitrine mit dem Fahrplan stehen. Von dort guckte ich immer wieder, ob mein Geheimnisvoller kam.
Ich fiel beinahe vor Schreck aus dem Ballonmantel, als jemand von hinten meine Schulter berührte. Als ich mich umdrehte, trat ich gegen den Koffer, der, schwer wie er war, direkt auf Hans‘ Fuß fiel.
Er hüpfte auf einem Bein, schimpfte und lachte gleichzeitig. Ob ich denn verrückt sei, so auszusehen wie Ingrid Bergman in Casablanca? Was zum Kuckuck ich eigentlich in meinem Koffer schleppte? Etwa die Notizen von meiner Oma?
Ich wurde sehr böse. Er spielte den Geheimnisvollen am Telefon und jetzt lachte er mich aus! „Was dachtest du dir eigentlich? Dass ich einem Fremden gleich ja sage?“ Er lachte noch immer und sagte, dem Schein nach sehe es aber so aus. Er holte sein Handy aus der Tasche und fing an, mich zu fotografieren. Ich versuchte, ihm das Telefon wegzuschnappen. „Lösch sofort die Bilder! Ich erlaube dir nicht, von mir Fotos zu machen! Du trittst meine persönlichen Rechte mit beiden Füßen! Ich wende mich an einen Rechtsanwalt! Ich zeige dich an!“
Er steckte sein Telefon ruhig in die Tasche zurück und erklärte mir, nicht er, sondern ich habe seine Rechte und rechten Fuß verletzt. Die Bilder wolle er gar nicht benutzen, er mache sie ausschließlich für meine Oma, um beweisen zu können, dass er die Sache ernst nahm und mich traf. Ob meine Oma mich in dieser Maskerade erkenne?
Kühl und distanziert beruhigte ich ihn. Den Hut hatte meine Mutter von meiner Oma bekommen; wenn sie sonst nichts erkennen würde, dann auf jeden Fall den Hut.
Wir setzten uns auf eine Bank, und ich fasste die Geschichte meiner Oma zusammen. Im Heim passierten komische Sachen. Besonders im Flügel B. Im Flügel A wohnte meine Oma. Dort schien alles in Ordnung zu sein, aber in B funktionierte die Heizung nie. Mal war der Fußboden so heiß, dass man barfuß nicht gehen konnte, mal sank die Temperatur innerhalb von ein paar Stunden unter 15 Grad. Meine Oma machte sich von allem, was ihr auffiel, Notizen. Und dann war letzte Woche diese Sache mit dem Wasser gewesen.
Über das Wasser wusste auch Hans Bescheid. Irgendein chemisches Zeug war in die Wasserleitung gelangt. Das Wasser im ganzen Gebäude und, wie sich herausgestellt hatte, in der ganzen Gegend, war für Stunden ausgeblieben. Man erfuhr natürlich nicht, was genau passiert war, aber die Alten hatten hinterher Kopfschmerzen, Schnupfen, bei manchen blutete sogar die Nase. Hans wusste sogar genau, an welchem Tag das war, denn nachher hatten die Bewohner nur darüber gesprochen. Am nächsten Tag war sogar ein Artikel in der örtlichen Zeitung erschienen.
Durch Zufall (und dank der Buren) erinnerte auch ich mich ganz genau an den Tag. Es war nicht so wichtig, warum, ich wollte Hans damit nicht langweilen, es ging ihn gar nichts an, wie ich mit den Buren meine Schlacht führte. Aber an dem Tag hatte ich Gelegenheit, die Wasserqualität in der Schultoilette zu prüfen: durch Gesichtswaschen, durch Wassertrinken, durch kalte Augenkompressen usw. Die Schule ist praktisch in der Nachbarschaft des Heimes. Ganz sicher kommt das Wasser für beide
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