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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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annimmt. Mädchengestalt.
    Das ist die Blutsschwester.
    Zu wissen, dass das Warten der Blutsschwester ihr gilt, ihr und niemandem sonst, ist wunderbar. Da drüben, keinen Steinwurf entfernt, hockt sie auf dem grauen Kasten. Langes Sitzen liegt ihr nicht. Bald wird sie die Straße überqueren.
    Und richtig: Während das linke das rechte Auge als Späher ablöst, stellen die Beine ihr Baumeln ein, springen ab, laufen los.
    Hinter Scheibe und Rollladen löst ihr prüfender Blick ein kurzes Erschrecken aus. Aber nein, sie sieht nichts, kann nichts sehen.
    Sie erreicht die Laterne, verkettet Arm und Pfosten. Die Karussellfahrt beginnt. Die Freundin jetzt als Wetterhahn, der sich dreht und dreht und dreht. Über ihr die steife Blechfahne, auf welcher der Straßenname steht.
    Im nahen Zimmer Unbeweglichkeit. Sie will nicht rausgehen. Ist erstarrt im Starren.
    Noch ist nichts als Hoffen. Dazu die Freude des Erwartetwerdens. Sie malt sich den Tag aus. Noch ist alles offen ⁠…
    Es wird nicht so bleiben. In sechs Wochen das Gymnasium. Der Alltag gebiert immer neue Trennungen, treibt Kilometer und Klassenkameraden wie Keile zwischen Beobachterin und Beobachtete.
    Hinter Scheibe und Rollladen hält sie weiter Ausschau. Unter ihrem gelockten Schopf denkt sie an früher.
    Draußen taucht indessen der blonde Junge auf. Sie spürt, wie seine Anwesenheit das Warten, das ihr gehört, verringert. Warum verschwindet er nicht? Hastig streift sie das Nachthemd ab, sucht eine Hose, findet kein frisches T-Shirt.
    Die Blutsschwester verschwindet im Nachbarhaus. An ihrer statt wartet nun der zukünftige Gymnasiast unter der Laterne. Sein blonder Kopf pfeift dämlich vor sich hin.
    Zu dritt ⁠…? Nein. Das will sie nicht. Lieber hofft sie auf ihre Rückkehr.
    Wünscht sich den Freundinnenfinger auf dem Klingelknopf. Gleich, gleich wird sie kommen, die Tür läuten, den Jungen nach Hause schicken – Da! Da ist sie schon. Von ihrer Schulter baumelt ein Beutel.
    Erst jetzt bemerkt sie, dass auch der Junge ein Bündel bei sich trägt. Die Köpfe der beiden Bepackten geben sich nickende Aufbruchszeichen. Sie wenden sich zum Gehen.
    NEIN ! Sie reißt am Rollladen. Aus einem Guckloch werden zwanzig. Sie sieht den schwesterlichen Schulterblick.
    Schon hat sie sich abgewendet. Schon entfernt sie sich.
    Dort, wo man nicht verhindern kann, dass sie kleiner wird, kleiner und unscharf, herrscht Ohnmacht. Da geht sie, denkt es unter den Locken, Seite an Seite mit einem, aus dem einst ein Vater werden wird.
    Weder drei, noch vier, noch fünf blutende Schnakenstiche können das erträglicher machen.
    33.
    Ich sitze am Stegrand. Mein Badeanzughintern verdeckt die äußersten der ins Holz geritzten Initialen. Ob B+M oder F+C sich noch lieben? Das Zittern der Planken kündigt die Rückkehr des Ägypters aus den Büschen an, jetzt trägt er Badeshorts.
    Nässe leckt an meiner Zehe, die ich wie einen Wasserläufer auf der sanft gewellten Oberfläche schwimmen lasse. Blau-grün schillernde Libellen, geflügelte Striche mit Augen, deren enorme, facettierte Größe mir ein Rätsel ist, schwirren Richtung Seerosen. Die Schulter des Ägypters berührt mich wie ich das Wasser: ein Hauch Haut.
    Ich lege den Kopf in den Nacken und staune: Glänzend grüne Buchenblätter beflecken die äußeren Himmelsränder. Der Rest ist tiefste, flirrende Bläue. Ein Blau so blau, dass es die Dunkelheit, jene an die Rückseite des Firmaments geschmiegte Schwärze, in welcher ungeduldig zwinkernde Sterne die leuchtende Kuppel mit Wimpern aus Licht berühren, erahnen lässt. Das Schwarz ist näher als gedacht. Man kann es fühlen. Da oben liegt es. Dicht und schwer. Auf dem Zeltdach unseres, von heiligen Händen aus den Blütenblättern gigantischer Enziane genähten, grellen blauen Wunders.
    Um meinen Augen eine kleine Pause zu gönnen, lotse ich sie zum Ägypter hin.
    Sein Rücken ist butterkeksfarben. Zerzauste, von der Sonne gebleichte Strähnen fallen ihm über die Stirn, landen auf dem Nasenbein. Ich vergleiche unsere Oberkörper, die sich seit Kurzem, wie ich finde, weniger ähneln: Während seine Brustwarzen noch immer flach zu beiden Seiten des Brustbeins kleben, sitzen meine neuerdings auf zwei eidottergroßen Schwellungen. Zugegebenermaßen handelt es sich um zwei sehr kleine Eidotter, eher Wachtel- als Hühnerei, und bei genauerem Hinsehen sind es mehr die Brustwarzen an sich, die sich ein bisschen verändert haben ⁠…Ach, verdammt ⁠… Sie werden nie wachsen. NIE

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