Nachkriegskinder
war Leni Pfeiffer aus dem 1971 erschienenen Roman »Gruppenbild mit Dame« beim Lesen sehr ans Herz gewachsen. Eine eher unauffällige, doch beim genauen Hinsehen ausgesprochen mutige Frau, die sich nicht vom Zeitgeist, vor allem nicht vom braunen Zeitgeist, beeindrucken ließ. Leni war keine Schönheit und mit ihren fast 50 Jahren nicht mehr jung und hatte doch gute Chancen bei Männern.
Keine Frage, Chauvinisten übersehen Frauen wie Leni. Es muss ihnen merkwürdig vorgekommen sein, als das deutsche Fernsehen ein Vierteljahrhundert später die Kommissarinnen in den Wechseljahren entdeckte.
|81| Heinrich Böll, der »gute Vater«
Bei öffentlichen Auftritten sah man Heinrich Böll nie ohne Zigarette, aber damit und der Tatsache, dass er im Krieg gewesen war, haben sich die Ähnlichkeiten mit den Soldatenvätern, wie sie in diesem Buch auftreten, auch schon erschöpft. Er war kein Macho, jedenfalls habe ich ihn so nie reden hören. Er äußerte sich nachdenklich, nicht eifernd, er wirkte melancholisch, aber nicht düster. Für viele Nachkriegskinder wurde er zum Modell des »guten Vaters«.
1992 wurde Bölls Roman »Der Engel schwieg« veröffentlicht, sieben Jahre nach seinem Tod. Er schrieb ihn 1950, doch sein Verlag hatte ihn nicht herausbringen wollen, vermutlich, weil die Leserschaft zu diesem Zeitpunkt vom Elend der Nachkriegszeit nichts mehr wissen wollte. Die Handlung ist einfach: Ein Mann und eine Frau treffen sich in einer völlig zerstörten Stadt, sie haben alles verloren, auch die Menschen, die sie liebten. Sie wissen nicht, ob sie leben oder sterben wollen. Der Mann ist Buchhändler von Beruf, ohne Arbeit, ohne Begabung für den Schwarzmarkt. Erzählt wird eine zarte Liebesgeschichte in den Trümmern. Keine Szene ohne Zigarette, kein Tag ohne Hunger. Bei Kälte ist das Bett ihr Refugium. Es wird geraucht und viel geschwiegen.
Zum ersten Mal dachte er: Was mag sie denken. Er hoffte, dass sie glücklich war; er liebte sie, aber er kannte keinen einzigen ihrer Gedanken; er liebte sie und er wusste, dass sie ihn liebte, aber von ihren Gedanken wusste er nichts, und er würde nie etwas davon wissen, niemals auch nur einen Bruchteil von den unzähligen Gedanken, die sich in ihrem Hirn bildeten, während der langen Stunden des Tages und der Nacht. Er fühlte sich sehr allein und hatte den Eindruck, dass sie nicht so sehr allein sei.
Und plötzlich wusste er, dass sie weinte. Es war nichts zu hören, er entnahm nur den Bewegungen des Bettes, dass |82| sie mit der freien Hand in ihrem Gesicht herumwischte, aber auch das war nicht klar, und doch wusste er, dass sie weinte. 10
Ihr Zuhause ist ein Zimmer in einem Wohnhaus, das seit einem Bombenangriff als halbe Ruine dasteht. Von Stunde zu Stunde mehr löst sich innen der Putz von den Wänden.
Dreck, staubiger, kalkiger Dreck, eine Wolke stob auf, die sich über alle Gegenstände des Zimmers lagerte: ein feiner ekelhafter Puder, und sie hörte es unter ihren Füßen knirschen; wo sie auftrat, ein trockener Kalkbrei, der sich in den groben Rillen des Bodens festsetzte. 11
Und dann folgt das eigentlich Bemerkenswerte, etwas Sensationelles in der männlichen Literatur: Auf drei Buchseiten erleben wir eine Frau beim Putzen.
Eimer um Eimer schleppte sie in die Bude, aber sie brauchte nur zwei Quadratmeter aufzuwischen, und schon war das klare Wasser milchig und dickflüssig von gelöstem Kalk, Gips und Sand, und jedes Mal, wenn sie den Eimer unten in die Trümmer kippte, blieb ein zähes Sediment, das sie mühsam ausspülen musste. Jedes Mal, wenn sie mit neuem Wasser ins Zimmer trat, blieb sie erschrocken stehen: die Stellen, die sie aufgewischt hatte, waren inzwischen getrocknet und leuchteten weiß, spröde und häßlich, während der Boden, den sie noch zu säubern hatte, eine dunkle und regelmäßige Farbe hatte. 12
Die Frau müht sich ab, vergeblich, doch aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Der Versuch, Ordnung zu schaffen, Normalität herzustellen. Putzen als Metapher für die quälend langsame Wiederherstellung der menschlichen Würde.
|83| Statt »Schwamm drüber« aufräumen
Als ich »Der Engel schwieg« mit dem Abstand vieler Jahre erneut las, fiel mir wieder ein, wie heftig Heinrich Böll von vielen seiner deutschen Altersgenossen abgelehnt wurde. Er war für sie ein »rotes Tuch«, man witterte in ihm den gut getarnten Verfassungsfeind. Sogar »Nestbeschmutzer« wurde er genannt, weil er die deutsche Vergangenheit
Weitere Kostenlose Bücher