Nachkriegskinder
nicht ruhen ließ, er wusste wie dünn die Decke der Normalität war, die verbergen sollte, woran nicht gerührt werden durfte. Böll, ein unbequemer Demokrat, traute dem faulen Frieden nicht. »Schwamm drüber« war mit ihm nicht zu haben. Er setzte der allgemeinen Verdrängung die Notwendigkeit des Aufräumens entgegen. Es würde ihn freuen zu sehen, wie ernsthaft viele Nachkriegskinder heute darum bemüht sind, sich von der irritierten Wahrnehmung, die ihnen das Schweigen der Eltern hinterließ, zu verabschieden, wie sie nach einem realistischen Bild des Soldatenvaters forschen und die Ambivalenz aushalten, dass er womöglich Opfer und Täter zugleich war. Davon erzählt auch die Geschichte von Marion Schlüter*, der zweiten Vatertochter.
Sie ist eine Geschäftsfrau von Ende fünfzig, sie kleidet sich konventionell, man könnte auch sagen britisch. Tweed und Karo. Das habe sie schon immer gern getragen, verrät sie. Zeitlos nannte man diese Mode bereits in den sechziger Jahren. Andererseits ist sie mit ihrer frechen, hennaroten Kurzhaarfrisur optisch durchaus auf der Höhe der Zeit. Eine typische Hamburgerin, könnte man meinen, hier geboren, hier verankert. Tatsächlich aber ist sie auf dem Land, in Schleswig-Holstein, aufgewachsen und erst mit 30 Jahren nach Hamburg gezogen.
Marion Schlüter ist viel gereist. Manchmal, wenn ihr die Arbeit über den Kopf zu wachsen droht, verlässt sie ihren Schreibtisch und stellt sich vor die große Weltkarte. Wie könnte der nächste Urlaub aussehen? Obwohl sie schon seit 30 Jahren in der Touristikbranche arbeitet, spürt sie nichts von der Reisemüdigkeit, die |84| so viele altgediente Kollegen beklagen. In regelmäßigen Abständen packt sie das Fernweh. Sie trägt ein Traumziel in sich, schon seit ihrer Jugend – das Zweistromland. »Ich war 16, als ich meinen Mann kennen lernte«, erzählt die Unternehmerin, »und damals hat er schon von mir gehört: Ich will unbedingt nach Babylon.« Als Schülerin war Geschichte ihr Lieblingsfach gewesen. Auf dem Gymnasium wurde, gemäß den üblichen Schleifen, alle paar Jahre das Altertum durchgenommen. Doch der Unterrichtsstoff »deutsche Geschichte« hörte jedes Mal vor dem Ersten Weltkrieg auf.
Eine Frau engagiert sich für Kinder im Irak
Sie weiß, vom Zweistromland wird sie noch lange träumen müssen. Viele Jahre sind vergangen, seit der Irak das letzte Mal in Urlaubskatalogen auftauchte. Auf absehbare Zeit wird sich daran nichts ändern. Tief sind die Wunden, die Diktatur und Krieg der Bevölkerung zufügten. Wie in jedem Nachkriegsland ist der Alltag beschwerlich, dazu die Terroranschläge. Wie in jedem Nachkriegsland können seelische Verletzungen erst dann anfangen zu heilen, wenn normale Verhältnisse herrschen. Das war unser gemeinsames Thema, als wir uns bei einer Benefizveranstaltung für Kinder in Irak kennen lernten. Es dauerte nicht lange, und wir kamen auf den Zweiten Weltkrieg und seine Spätfolgen zu sprechen. Marion Schlüter zeigte sich sehr interessiert an der Thematik. Wir tauschten unsere Karten, und einen Monat später führten wir in ihrem Büro ein langes Gespräch.
Ein Vertreter der Hilfsorganisation, die Kinder im Irak unterstützt, hatte mir verraten, das Reiseunternehmen Schlüter sei seit Jahren ihr großzügigster Spender. Die Chefin, hieß es, sei mit ganzem Herzen dabei. Sie habe eine Reihe von Patenschaften übernommen und lasse sich regelmäßig über die Lebensumstände der Kinder informieren.
Marion und Nikolaus Schlüter* hätten in den Irak fahren |85| müssen, als sie jung waren – nachher weiß man eben alles besser. Aber damals hatten sie gerade ihr erstes Reisebüro aufgemacht. Zeit und Geld wurden nur in dringend notwendige Projekte investiert. Dann bekam die Geschäftsfrau in kurzen Zeitabständen drei Kinder. Sie blieb berufstätig, aber mit eingeschränkter Mobilität. Viele Jahre schob sie ihre Traumreise auf, und nun könnte es zu spät sein. Inzwischen sind die Kinder erwachsen, und das Unternehmerehepaar hat sich eine ganze Kette von Filialen mit entsprechenden Internetagenturen aufgebaut, einige davon in Osteuropa.
Was mich am meisten an Marion Schlüter fasziniert, ist ihre Art zu reden: langsam, gelassen, vollkommen ruhig. Eine weiche, dunkle Stimme, mit der sie vermutlich auch Menschen erreicht, die eigentlich keine guten Zuhörer sind. Jemand wie sie – so stelle ich mir vor – widerspricht nie direkt, sondern bringt ihre Einwände diplomatisch und vor allem ohne
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