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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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dass Willy Brandt mit dieser Geste um Vergebung bat für die Verbrechen, die in deutschem Namen begangen worden waren?
    Marion erinnert sich, ihn später gezielt darauf angesprochen zu haben, aber er wich aus. Kein Wort sagte er mehr dazu. Ein Verdränger war er nicht. »Wenn er das Warschauer Ghetto erwähnt hat, dann heißt das: Er muss das alles im Kopf gehabt haben«, stellt seine Tochter nüchtern fest. »Er muss doch wer weiß |88| wie oft mitbekommen haben, wie ein alter Nazi aufgestöbert wurde. Er muss doch auch Angst gehabt haben, dass jemand aus dem Ghetto auftaucht und sagt: »Du warst das doch! Du hast soundso viele Leute erschossen!« Sie hält eine Weile inne, bevor sie weiterspricht: »Ich wusste ja von seinen schlechten Träumen nachts, wie er schrie und um sich schlug. Und ich wusste von der Knüppelgasse im Lager. Ich habe ihn eher als Opfer gesehen. Und anders als andere meiner Altersgruppe kannte ich keine stellvertretende Schuld.«
    Sie kann sich nicht entsinnen, über die Beteiligung ihres Vaters an einem NS-Verbrechen entsetzt gewesen zu sein. Ihre Aussage verblüfft mich. Teilte sie etwa nicht die große Angst der Nachkriegskinder, ihr Vater könne ein schlimmer Nazi, ein Täter gewesen sein? Wie ist sie damit fertig geworden, als sie die Wahrheit kannte? Hat sie sich für ihren Vater geschämt? Die Antwort lautet Nein – ohne Wenn und Aber.
    Er habe sich verstricken und missbrauchen lassen, glaubt sie und gibt zu bedenken: Als Hitler an die Macht kam, war Anton Werk 11 Jahre alt gewesen. Seine Jahrgänge hatten nichts anderes als die NS-Propaganda und die übliche Judenhetze kennen gelernt, erst in der Hitlerjugend, dann im Arbeitsdienst. Ihm fehlten die Antennen des kritischen Wahrnehmens, des Argwohns. Er hatte das Verbrecherische seines Einsatzes in Warschau nicht rechtzeitig erkannt. Während ich ihr zuhöre, frage ich mich, welcher Zeitpunkt in seinem Fall »rechtzeitig« gewesen wäre.

Keine Karriere bei der Wehrmacht
    Ihr Vater, betont Marion Schlüter, habe in der Wehrmacht keine Karriere gemacht, und er sei nach dem Krieg kein Ewiggestriger gewesen – das rechne sie ihm positiv an. »Er sprach nicht wie ein Nazi. Er hat nie abfällig über Juden geredet. Und ich habe nicht im Entferntesten daran gedacht«, fügt sie hinzu, »dass er zu denen gehörte, die einen Teil der Menschheit ausrotten wollten.«
    |89| Marions Mutter kannte Anton schon, bevor er Soldat wurde, aber, wie die Tochter vermutet, nicht besonders gut. Der Bauernsohn machte als Jugendlicher erfolgreich Sport, Boxen und Fußball. Auch konnte er gut schießen, stammte er doch aus einer armen Familie mit vielen Kindern. Alle Söhne wilderten. Sie erlegten Wild und stellten Fallen. Das sei, erklärt mir Marion, in der schlechten Zeit auf dem Land durchaus üblich gewesen. Man durfte sich eben nicht erwischen lassen.
    Als der Heimkehrer Anton Werk beruflich wieder Fuß gefasst hatte und gut verdiente, pachtete er eine Jagd. Er blieb auch der begeisterte Chorsänger, der er von Jugend an war. In der Kriegsgefangenschaft hatte er einen Chor ins Leben gerufen und selbst dirigiert. Als Vater setzte er durch, dass alle seine fünf Töchter ein Instrument lernten. Marion übte 12 Jahre lang am Klavier, dafür ist sie ihm heute noch dankbar. Liebend gern hätte er aus seinen Töchtern ein Akkordeonorchester geformt. Er habe immer wieder gesagt, wie sehr ihm das Musikmachen in der Gefangenschaft geholfen habe, erzählt Marion. Sein Satz dazu lautete: »Wenn du Musik machen kannst, kommst du überall durch.« Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dabei zu sein, wenn seine Kinder in einem Schülerkonzert auftraten.
    Anton Werk kam 1949 heim, ein Jahr später heiratete er. 1951 kam Marion als erstes von fünf Kindern zur Welt. Der Vater hatte ein Ingenieurstudium begonnen, was ihm nach den Strapazen von Krieg und Gefangenschaft äußerst schwer fiel. Oft sagte er: »Der Krieg hat mir so viele Jahre weggenommen, mich haben sie so betrogen.«

Jäger, Kettenraucher und Anarchist
    Sie beschreibt ihn als einen Mann mit schier grenzenloser Durchsetzungskraft. Ein Mann, der sich immer im Recht sah und nach seinen eigenen Regeln lebte. Zum Beispiel habe er kurz vor seinem Tod drei Mal einen Bussard geschossen, nicht obwohl, sondern |90| weil es verboten war. Seine Freude darüber drückte sich in dem Satz aus: »Wie alt muss ich werden, bis ich tun kann, was ich will.« Marion Schlüter kann sich nicht erinnern, jemals mit ihm ein

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