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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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jede Aufregung vor, im Sinne von: Das überrascht mich jetzt aber, denn ich bin von etwas anderem ausgegangen. Darüber sollten wir jetzt noch mal reden … Als ich ihr meinen Eindruck mitteile, sagt sie in ihrer unnachahmlich ruhigen Art: »Das würde ich so nicht ausdrücken. Gelegentlich kann ich sehr laut werden. Meinem Mann zum Beispiel muss ich manchmal regelrecht ins Ohr brüllen, damit er merkt, wie wichtig mir eine Sache ist und dass ich seine Unterstützung brauche.«

Zu Fuß von Riga nach Schleswig
    Sie reicht mir Fotos von der Eröffnung einer Filiale in Riga und leitet dann, für mich überraschend, zu unserem Thema über: Riga, den Namen habe sie schon als Kind gekannt, sagt sie. Da sei ihr Vater in sowjetischer Gefangenschaft gewesen. Seit sie denken kann, sieht sie ihn als einen Menschen, der Schlimmes erlebt und auf abenteuerliche Weise überlebt hat. Über das Wie hat er nie gesprochen, nur soviel, dass er aus dem Lager flüchtete und dass |86| der lange Weg zurück in die Heimat ein Fußmarsch war. Wenn im Fernsehen Kriegsfilme gezeigt wurden, verließ er den Raum. Besonders schlimm muss es für ihn gewesen sein, als 1959 der Mehrteiler »So weit die Füße tragen« ausgestrahlt wurde – ein Straßenfeger, wie man damals sagte. Auch Marions Familie fieberte der nächsten Folge entgegen, und wenn sie im Vorspann angekündigt wurde, stets mit dem Zusatz »nach dem gleichnamigen Roman von Josef Martin Bauer« dann knisterte es vor Spannung im Wohnzimmer. Der Vater hatte dann schon das Haus verlassen und vermutlich das einzige Wirtshaus angesteuert, in dem noch kein Fernsehapparat stand. Zu groß waren die Ähnlichkeiten mit der Hauptfigur Clemens Forell, der einem russischen Kriegsgefangenenlager entflohen war und erst drei Jahre später die Heimat erreichte. Dort erkannte ihn niemand mehr. Den Andeutungen ihres Vaters konnte Marion nur wenig entnehmen. Aus dem ersten Lager floh er, wurde wieder eingefangen und durch eine »Knüppelgasse« gejagt, wo man ihn halb totschlug. Die anderen Kriegsgefangenen mussten dabei zusehen. Es handelte sich um ein in den Lagern übliches grausames Ritual, das Nachahmer abschrecken sollte. Die Fähigkeiten von Anton Werk* wurden in Russland gebraucht. Der Gefangene aus Deutschland konnte bauen, er konnte aufbauen. Vor dem Krieg hatte er eine Maurerlehre gemacht und schon früh eine Baufirma geleitet.
    In zwei oder drei Lagern hatte er die Jahre bis zu seiner Flucht verbracht, zuletzt in Riga. Als Marion noch sehr jung war, hatte sie sich gefragt, warum es ihm überhaupt wichtig gewesen sei heimzukommen. Verheiratet war er damals noch nicht. »Er hat erzählt, er hätte eine Zeitlang in Riga eine Freundin gehabt, denn er durfte das Lager verlassen«, berichtet sie. »Die Freundin hat ihm sogar einen Kuchen gebacken.« Marion verstand nicht, warum er so tollkühn gewesen war, ein zweites Mal zu flüchten.
    Während unseres Gesprächs fällt der Tochter ein, sie hätte schon immer gern gewusst, welche Entfernung er von Riga bis |87| Schleswig zurückgelegt hatte, und sie befragt ihren Blackberry. Antwort: 1200 Kilometer. »Die wird er ja nicht in gerader Linie an der Ostsee entlang gegangen sein«, denkt sie laut. Sie hat keine Vorstellung davon, wie lange die Flucht dauerte. Ihre Mutter, fährt sie fort, habe sich sehr erschreckt, als sie Anton von weitem habe kommen sehen – dabei sei er schon gewaschen, rasiert und gut angezogen gewesen. Dennoch: Der Mutter habe sein Anblick Angst gemacht. »Mir hat sie gesagt, der Vater hätte etwas Tierhaftes an sich gehabt.«
    Ich frage sie, was die Mutter damit gemeint haben könnte und Marion antwortet in dem ihr eigenen unerschütterlichen Tonfall: »Was glauben Sie, wie er das geschafft haben soll, sich durchzuschlagen, zu Fuß und nichts zu essen? Also, um zu überleben, hätte er jemanden umgebracht. Davon bin ich überzeugt. Dazu kenne ich ihn zu gut.«

Willy Brandts Kniefall in Warschau
    Seinen Einsatz im Warschauer Ghetto erwähnte Anton Werk seiner Tochter gegenüber beiläufig, als diese noch sehr jung war, in einem einzigen Satz, ohne jeden Zusammenhang, nur den Fakt an sich. Als Soldat der Wehrmacht, gerade 21 Jahre alt, war er daran beteiligt gewesen, den Ghettoaufstand niederzuschlagen. Was hatte Anton Werk dazu gebracht, sein Schweigen zu brechen? War der Auslöser Willy Brandts Kniefall in Warschau gewesen? Was mag er empfunden haben, als er im Jahr 1970 die Bilder im Fernsehen sah? Was hielt Anton Werk davon,

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