Nachkriegskinder
geben. Tatsächlich schätzte er Nikolaus Schlüter und dessen Familie. Aber dass seine Tochter fortging, das war in seiner begrenzten Wahrnehmung einfach nicht vorgesehen. Wochenlang war mit ihm darüber nicht zu reden, er stellte sich stur. Aber schließlich, als der Polterabend näher rückte, räumte er den vollgestellten Keller aus, damit dort gefeiert werden konnte.
Familieneinsatz auf der Baustelle
Seine schönsten Zeiten erlebte er, wenn die ganze Familie zusammen an einem Haus baute. Samstags auf der Baustelle, erzählt Marion Schlüter, da sei der Vater in seinem Element gewesen. Er habe den Arbeitseinsatz dirigiert und jedem genau geklärt, was er tun solle. Aber natürlich habe der Vater auch selbst mit angepackt. Er erfüllte seine Rolle als Ernährer, mit Geld war er großzügig. Seine Frau verwaltete die Finanzen für die ganze Familie. Aber wenn sie ihn kritisierte, weil er selten zu Hause war und lieber in der Wirtschaft Karten spielte, wurde er laut und verletzend. Er bestimmte, was eine Frau ihm sagen durfte und was nicht. Marion fand es schrecklich, weil ihre Mutter sich fügte und seine Ausbrüche hinnahm. An dieser Stelle frage ich nach: Ob sie sich schützend vor ihre Mutter gestellt habe? Sie denkt nach, dann schüttelt sie den Kopf. Nein, sagt sie, denn sie habe immer gedacht: |93| Die Frau ist alt genug, sie ist die Mutter seiner Kinder. Wieso lässt sie sich das gefallen!
Wie Marion Schlüter weiter berichtet, gab es in ihrer Jugend viel Streit zwischen ihr und ihrem Vater, weil er sie schlecht behandelte. »Ich habe ihm dann klar gemacht, dass er mit mir so nicht umgehen darf«, sagt sie. »Einmal standen wir uns in der Küche gegenüber – ich hatte einen Besen in der Hand – und wenn meine Mutter nicht dazwischen gegangen wäre, hätte ich ihn verprügelt. Das hat er damals kapiert.«
Ihren Schilderungen entnehme ich: Sie wurde als einzige in der Familie vom Vater mit Respekt behandelt, wohl deshalb, weil sie ihm Grenzen setzte. Als erwachsene Frau verweigerte sie ein Jahr lang den Kontakt zu ihm, nachdem er sie äußerst grob beleidigt hatte. Ein Satz wie »Es tut mir leid«, wäre von seiner Seite nie gefallen, aber Marion erfuhr von anderen, wie ernst er den Konflikt nahm und wie hilflos er war, ihn zu beenden. Da ging sie wieder auf ihn zu.
Mir kommt ein Gedanke: Vielleicht ist es wie mit der Henne und dem Ei. Vielleicht konnte sie, im Unterschied zu ihren Schwestern, nur deshalb dem Vater die Stirn bieten, weil sie Vatertochter war – weil er und sie von Anfang an ein besonderes Verhältnis hatten. Marion denkt über meine Sichtweise nach und meint, so könne es in der Tat auch gewesen sein. Vielleicht sei dies der Grund gewesen, warum sie seine Ausraster nur selten auf sich persönlich bezog und sich kaum je wirklich verletzt fühlte. Im Unterschied zu einer ihrer Schwestern, die bis heute unter schweren Depressionen leide. Noch immer trage die Schwester Groll gegen den Vater in sich. »Für mich ist es einfacher, mit ihm im Reinen zu sein«, fügt Marion nach einer Pause hinzu. »Vater hat immer gesagt, dass er von allen seinen Kindern mich am meisten schätzt.«
Zunächst war Marion eine große Enttäuschung gewesen. Er hatte einen Jungen gewollt. Nach der Ältesten wurden noch vier weitere Mädchen geboren. »Erst, als ich größer war, konnte er mit |94| mir etwas anfangen, und er ließ mich wirklich machen«, berichtet sie weiter. »Eigentlich ungewöhnlich. Ich musste mich nie rechtfertigen, wo ich hingehe, wann ich wiederkomme. Er war der festen Überzeugung, ich gehe meinen Weg – obwohl ich eine Frau bin.« Er habe sie wie einen Mann behandelt, fügt sie hinzu, das fiele ihr erst im Nachhinein auf. Sie gehe mit ihren beiden Töchtern völlig anders um als mit ihrem Sohn.
Man gab sich nur die Hand
Seit seinem Tod vor zwei Jahren beschäftigt sie die Vater-Tochter-Beziehung auf ganz andere Weise als früher. »Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, wie viel Abstand man zum Vater hatte, und wieso man das im ganzen weiteren Leben nicht ändern konnte. Das blieb so.« Sie schweigt eine Weile, dann nimmt sie den Gedanken wieder auf. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass er mich, seit ich zur Schule ging, je angefasst hätte oder ich ihn, außer wir gaben uns zur Begrüßung die Hand. Das ist doch komisch zwischen Eltern und Kindern. Aber was noch eigenartiger ist: Ich konnte ihn bis zu seinem Tod nicht umarmen. Heute denke ich, es lag vielleicht auch von
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