Nachkriegskinder
gefunden hatte, als Zeitzeugen an seine Schule ein. Er schweigt eine Weile, während er ohne Nutzen in seiner Teetasse rührt, und schließlich bekennt er: »Inzwischen wünschte ich mir, ich wäre nicht mehr so sehr auf die deutsche Schuld fixiert.«
Dann berichtet er – und es klingt fast wie ein coming out –, er habe vor einigen Monaten zum ersten Mal bewusst ein Buch zur NS-Vergangenheit wieder aus der Hand gelegt. Aber leicht sei es nicht gewesen. Er müsse üben.
Was verbirgt die stellvertretende Schuld?
Welche Funktion haben falsche Schuldgefühle? Welcher Gewinn mag darin liegen, sich zwanghaft mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen und zu glauben, ständig etwas gut machen zu müssen? Darüber habe ich nach meinem Gespräch mit Reinhard Pahle häufiger nachdenken müssen. Falsche Schuldgefühle tauchen ja in vielfältigen Zusammenhängen auf, und ich glaube, die meisten Menschen wollen sie nicht wirklich loswerden, weil sie ahnen, es könnten darunter weit unerträglichere Gefühle auf sie lauern: Ich bin ausgeliefert, ich bin völlig allein auf der Welt.
|138| Solange die Ärztin Vera Christen aus dem Kapitel »Die gut getarnte Vergangenheit« nicht wusste, dass sie als Kind missbraucht und von ihren Eltern im Stich gelassen worden war, empfand sie heftigste Schuldgefühle gegenüber dem Ehemann, ohne zu ahnen, dass sie damit die Schmerzen ihrer traumatischen Verletzungen betäubte, die mit den Gefühlen absoluter Ohnmacht verbunden waren. Dieser Seelentrick führte zu der Illusion, sie sei nicht hilflos, sie könne etwas »tun«, in diesem Fall für die Beziehung, sie könne »ganz lieb« sein, ja sogar den Mann »heilen«. Sich schuldig zu fühlen hat – im Unterschied zu sich ausgeliefert zu fühlen – den Vorteil, dass man sich einbildet, man habe die Lage unter Kontrolle. Erst als Vera Christen verstand, dass sie selbst es war, die der Heilung bedurfte, änderte sich mit den Jahren ihr Beziehungsmuster, und die falschen Schuldgefühle lösten sich auf.
Erst als Reinhard Pahle in einer psychosomatischen Klinik die Wahrheit über seine Kindheit sehen konnte, als er seine Unsichtbarkeit begriff, das herzlose Ignoriertwerden durch die Erwachsenen, als er empfinden konnte, wie einsam und verzweifelt er gewesen war und seine Tränen zulassen konnte, da begannen auch bei ihm die falschen Schuldgefühle zu erodieren, und damit auch die stellvertretende Schuld an den NS-Verbrechen.
Am Ende unseres Gesprächs empfahl ich ihm den Roman »Das Eigentliche« von Iris Hanika. Er erschien 2010 und wurde in allen großen Zeitungen als literarisches Ereignis gefeiert. Als »Das Eigentliche« bezeichnet Iris Hanika das, was die Kriegskinder und die Nachkriegskinder nicht loslässt, was für sie identitätsstiftend war – das Unfassbare des Holocaust. Das Buch beginnt so:
Es kommt eine Zeit, da fällt alles ab von einem, die Wut der jungen Jahre und das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt, auch der Zuversicht, sie würde besser werden oder sogar gut, wenn man sich nur genug darum bemühte |139| und mit ganzem Herzen. Es kommt eine Zeit, da ist dieses Herz plötzlich leer geworden und der Mensch, auf sich selber zurückgeworfen, ganz allein mit sich. Keine schöne Zeit. 16
Schön geschrieben, denkt man, aber will man das lesen? Schon wieder eine Geschichte über Depressionen … Aber dann erfährt man, der Protagonist Hans Frambach arbeite als Archivar im Berliner »Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung«, und mit dieser Bezeichnung ist klar: Der Roman ist in großen Teilen eine Satire, die sich – wie jede gute Satire – mit fließenden Übergängen an die Wirklichkeit anlehnt. Im Mittelpunkt steht eine jammervolle Figur. Schuldbeladener als Frambach kann kein Deutscher sein, da ist für das normale oder gar genüssliche Leben kein Platz mehr. Ein Unglücksrabe mit hoher Selbsterkenntnis, wissend »dass ihm nichts gelang, dass er sich immer ungeschickt benahm, dass er über die kleinsten Dinge tagelang grübeln musste, dass keine Frau sich für ihn interessierte, dass er seinen verschiedenen Ticks nicht entkam, dass er regelmäßig fast überfahren wurde und so weiter.« 17
Doch in die Jahre gekommen muss Frambach feststellen: Die Fixierung auf Auschwitz hat nachgelassen. Eine Zeitlang noch stabilisiert ihn ein schlechtes Gewissen, das ihm das düstere Gefühl eingibt, sich von Auschwitz zu entfernen bedeute Verrat an den Opfern des Holocaust. Als auch das vorbei ist, beginnt ein
Weitere Kostenlose Bücher