Nachkriegskinder
Journalistin Ute Scheub stand am Anfang der Reise mit der Überschrift »Wer war mein Vater?« keine Lebenskrise, sondern ein Fund auf dem Dachboden des Elternhauses. Ihr Buch »Das falsche Leben« handelt zu großen Teilen von den Ermittlungen über einen Nazi-Vater und damit von Ermittlungen in eigener |172| Sache. Schon immer hatte sie sich intellektuell mit der Nazizeit beschäftigt, aber nicht im Kontext mit ihrer persönlichen Geschichte. Nun war die Zeit reif.
Sie hat sich mit dem Charakter des Vaters auseinandergesetzt, sie hat akribisch dessen NS-Hintergrund recherchiert und alle Schritte nachvollziehbar beschrieben. Mich faszinierte, wie sie jedem Hinweis nachging, wie sie ein Mosaiksteinchen nach dem anderen ausgrub, Fakten und Indizien, die am Ende zwar noch kein komplettes Bild ergaben, aber doch sehr weitgehend Person und Leben des Vaters begreifbar machten. Er gehörte nicht zu den NS-Berühmtheiten, er war einer unter vielen Nazis gewesen, doch gelang ihm eine Inszenierung, die ihn für kurze Zeit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit stellte. 1969 nahm er sich auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart während einer Veranstaltung mit Günter Grass vor 2000 Menschen das Leben. In seinen letzten Worten grüßte er seine »Kameraden von der SS«, dann schluckte er Zyankali. Günter Grass schrieb darüber in seinem »Tagebuch einer Schnecke«; er gab dem Apotheker aus Tübingen den Namen Manfred Augst*, den später auch seine Tochter Ute übernahm.
Ich erinnere mich an den Selbstmord. Ich hörte davon, als ich mit Anfang 20 als Redakteurin beim »Kölner Stadt-Anzeiger« arbeitete. Und ich habe noch im Ohr, wie sich ein väterlicher Kollege dazu äußerte: »So muss man es machen, wenn man die eigenen Kinder dazu bringen will, sich ein Leben lang ungut mit ihrem Vater zu beschäftigen.«
Der Alptraum vom Keller des Vaters
Der Name Ute Scheub stand ganz oben auf der Liste der Menschen, die ich für mein Projekt »Nachkriegskinder« zu interviewen wünschte. Es interessierte mich, etwas über die Auswirkungen ihrer 2006 veröffentlichten Vatersuche zu erfahren. Dahinter stand, platt ausgedrückt, die Frage: Hat sich für sie der ganze Aufwand |173| überhaupt gelohnt – vor allem der emotionale Aufwand? Wobei mir klar ist, dass Söhne und Töchter, die Familiengeheimnisse aufzudecken versuchen, in der Regel nicht die Wahl haben, es zu tun oder zu lassen. Sie tun es, weil sie nach einer längeren Phase der Unentschiedenheit merken: Sie können gar nicht anders. Häufig drücken sich die inneren Konflikte in Träumen aus, wovon auch Ute Scheub nicht verschont blieb.
Mir träumte, ich würde eine glitschige Kellertreppe hinuntersteigen, immer tiefer ins Dunkel, bis ich an eine geschlossene Tür gelangte. Eine Art Stahltür, doppelt dick und dreifach gesichert. Eine Tresortür oder Bunkertür. Ich wollte nachschauen, was sich dahinter verbarg. Ich wusste: etwas unaussprechlich Entsetzliches. Alles um mich herum stank, moderte und faulte. Ich hatte grauenhafte Angst, die Tür zu öffnen. Aber ich wollte es. Schließlich überwand ich mich und versuchte, die Türklinke hinunterzudrücken. Die Tür war verschlossen. Plötzlich spürte ich die Anwesenheit meines Vaters in meinem Rücken. »Das ist verboten!« schrie er. »Hau ab hier! Das geht dich gar nichts an!« Und ich floh, so schnell ich konnte. 25
Am Telefon sagte mir Ute Scheub, mehr als eine Stunde könne sie nicht einplanen, da sie am nächsten Morgen mit der Familie in die Ferien aufbreche, sie sei einfach nur urlaubsreif. Doch während unseres Gesprächs im Sommer 2010 in Berlin wirkt sie auf mich überhaupt nicht abgekämpft und auch nicht verschattet durch die Geschichte ihres Vaters. Da sitzt eine Frau von Mitte fünfzig, sie trägt ein Sommerkleid, sie freut sich auf das Naheliegende, auf den Urlaub, und hat doch nichts dagegen, dass wir gemeinsam für eine begrenzte Zeit in Abgründe abtauchen.
|174| Lücken in den Nachforschungen
Ich möchte gern wissen, wie es ihr während ihrer Buchrecherchen ging. Gab es eine Phase, in der sie körperlich oder seelisch so aus dem Gleichgewicht geriet, dass sie das ganze Vorhaben abbrechen wollte? Nein, sagt sie, Aufhören sei nicht in Frage gekommen, aber Pause machen. »Das Ganze ist mir zwischendurch schwer an die Nieren gegangen«, berichtet sie. »Es hat sich vor allem in Alpträumen geäußert. Ich bin regelmäßig durch Scheiße gewatet, durch braune Scheiße!« Sie sagt es mit einem
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