Nachkriegskinder
gesehen. Da habe ich gewusst: Wer den Augapfel Gottes antastet« – gemeint waren die Juden –, »der hat den Zorn Gottes auf sich geladen.« Diese Sätze entsprachen seiner Frömmigkeit.
|227| Aber meine Mutter sagte bis zuletzt: Wir konnten nichts wissen. Dass das Krematorium in Hadamar immer rauchte, haben wir gehört, aber dabei haben wir uns doch nichts gedacht. Nach Vaters Worten gehörte sie also auch zu denen, denen ich nicht glauben sollte. Aber nie haben wir zu dritt über diese Spannung sprechen können.
Jeden Sonntag wurde der Krieg lebendig
Über die Auschwitzprozesse wurde in meinem Elternhaus nie geredet, auch nicht über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel. Es ist nicht einmal über die Entnazifizierung gesprochen worden. Aber jeden Sonntag wurde der Krieg lebendig, wenn die Geschwister meiner Eltern zu Besuch kamen. Einer der Onkel erzählte nicht vom Heldentum, sondern von seiner Angst vor Partisanen, in Jugoslawien und Italien. Der war mir der Sympathischste. Der andere Bruder der Mutter, von Beruf JVA-Bediens teter , war der Held der Kaffeerunde, ein großer, blonder »typisch deutscher« Mann, den ich bewunderte. Sonntags, nachdem der Frankfurter Kranz gegessen war, gingen die Frauen in die Küche und die Männer blieben, und dann wurden die Abenteuer aus dem Krieg erzählt. Vater saß meist schweigend dabei. Der Onkel erzählte, wie sie ein russisches Dorf eingenommen hätten, wie er russische Soldaten »umgemäht« habe. Das hat der Onkel, der Held, detailliert erzählt, und ich war davon wie gefesselt. Irgendwann, für alle völlig überraschend, sagte der Vater barsch: »Ich will diese Geschichten nicht mehr hören!« Und er verwies seinen Schwager aus dem Haus, ohne weitere Erklärung, geschweige denn, den Konflikt offen zu besprechen. Vater hatte das jahrelang ertragen und nie etwas gesagt. Natürlich habe ich mich gefragt, warum er so lange die Kriegsgeschichten am Sonntag zugelassen hat. Es gab etwas Feiges an ihm oder besser gesagt, eine Unfähigkeit zum Konflikt. Etwas musste lange in ihm gären, bis es schließlich zur Eruption kam.
|228| Anfang Siebzig ist er an einem Herzinfarkt gestorben. Was man auch noch wissen muss: In den letzten Kriegswochen ist Vater desertiert. Er sprang vom fahrenden Zug, in Deutschland, als er zum nächsten Fronteinsatz gebracht werden sollte. Von März 1945 bis Kriegsende hat er sich versteckt. Ich halte ihn für einen typischen Mitläufer. Er sagte immer: Wer etwas gesagt hätte, wäre erschossen worden. In seinem Nachlass fand ich mehrere Ehrenabzeichen, darunter zweimal das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Er war Unteroffizier und hat alles mitgemacht und das auch noch als besonders tapferer Soldat. Er hat auch viele Todesanzeigen von Gefallenen aufbewahrt, die er gekannt haben muss, sonst hebt man so etwas ja nicht auf.
Mutters Bruder, der Held, hat übrigens meinem Vater die Schuld daran gegeben, dass meine Mutter depressiv war. Er sagte: »Die Marianne ist immer ein lustiges Mädchen gewesen. Seit ihr verheiratet seid, ist sie es nicht mehr.«
Mutter und Vater: Zwei Unerlöste
In gewisser Weise hatte er Recht: Vater war nicht in der Lage, meiner Mutter in ihrer Depression emotional beizustehen, aber er ist immer bei ihr geblieben. Wenn sie sagte: »Mein Sünde ist so groß, die kann kein Gott vergeben«, konnte er nur wenig dagegensetzen, weil er selbst etwas Unerlöstes in sich trug. Was hätte er auch antworten sollen? Vielleicht sprach sie etwas in ihm an, was auch er hätte sagen können.
Meine Mutter hat in einer religiösen Wahnvorstellung gelebt, ausgelöst durch die unverarbeitete Trauer über ein verlorenes Kind. Auch konnte sie sich nicht gegen die Schwiegermutter durchsetzen, die ihr verbot, mich als Baby nachts zu stillen. Mutter hat mir später gesagt: »Ich habe mich an dir schuldig gemacht. So lange hast du nachts gebrüllt wie am Spieß …«
Das Drama meiner Familie spüre ich manchmal noch heute als Einsamkeit, die ich in mir trage. Oft denke ich, es sei mein |229| Schicksal, diese Einsamkeit auf mich zu nehmen. Ich habe keine ungestörte emotionale Beziehung zu meinen Eltern, obwohl ich sie bis heute liebe – das klingt paradox. Ich war bestimmt schon ein Jahr oder länger nicht mehr an ihrem Grab. Wenn ich Familien sehe, die ihr Familienleben pflegen und auch einmal einfach miteinander fröhlich sind, merke ich, was ich vermisst habe. Bis heute – in meiner eigenen Familie – holt mich manchmal die Anspruchshaltung
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