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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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großen Anteil. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, wir führen eine gute Ehe, wir verstehen uns – und wir verstehen uns mit unseren drei Kindern, die jetzt schon erwachsen sind. Darüber hinaus arbeite ich in einem Beruf, den ich liebe. Alles in allem eine gute Bilanz, die mich bisweilen selbst staunen lässt.
    Ich denke, dass ich zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Menschen begegnet bin. Ich habe mir als Kind Ersatz gesucht für das, was ich bei den Eltern nicht bekam. Ich war viel bei den Nachbarn, ältere Eheleute, kinderlos, die kraulten mir den Rücken. Ich habe bis zum Schulabschluss oft bei einem jüngeren Ehepaar gegessen – wenn man so will, erwachsene Freunde. Sie nahmen mich mit in Konzerte und ins Theater, sie haben mich mit Kultur versorgt, was es in meinem Elternhaus nicht gab. Nach dem Abitur habe ich in einer Kirchengemeinde ein ausgedehntes Praktikum gemacht. Der Pfarrer war gleichzeitig Therapeut, mit ihm konnte ich die Auswirkungen der sonderbaren Frömmigkeit |232| meiner Eltern besprechen und verarbeiten. Ganz allmählich wuchs in mir das Gefühl, ich darf frei sein und leben.
    Ich habe damals gesagt: »Was ich in diesem Praktikum erlebe, ist meine Auferstehung.« Ich entschied mich dann letztlich gegen den Pfarrersberuf und bin Allgemeinmediziner mit eigener Praxis geworden. ✎
     
    In der letzten halben Stunde unserer Begegnung schauen Simon Carstens und ich uns die Fotoalben seines Vaters an. Eines trägt den Titel »Meine Arbeitsdienstzeit« und ist mit einem Hakenkreuz dekoriert. Die weiteren Alben behandeln Polenfeldzug, Frankreichfeldzug, Russlandfeldzug. Die Fotos dokumentieren Kameradschaft, Blödsinn machen, keine Heldentaten. Der vorherrschende Eindruck: Hier machen junge Männer Urlaub. Ein kleines Fotoalbum heißt »Mein Paris«. Der erste Tag in Frankreich ist von Vater Carstens unterschrieben mit: »Hurra, Hurra, wir sind da!« Aber 1942 fotografiert er in Russland gelegentlich die Gräber von Kriegskameraden.
    Er war Teil eines Fernmeldebataillons, und damit fand sein Einsatz hinter der Frontlinie statt. »In Russland wusste Vater, dass dies ein Vernichtungsfeldzug war«, sagt sein Sohn Simon. »Nach zwei Tagen waren die Dörfer judenfrei. Er sah die Spuren der Gewalt, wenn er durch diese Dörfer kam.«
    Mich überrascht, wie viel Simon Carstens über den Krieg seines Vaters weiß. Der Sohn teilt mir mit, er habe die Alben nur ein einziges Mal angeschaut, sehr flüchtig. Nun entdecken wir Aufnahmen, die der Vater durch Stacheldraht fotografierte. Solche Bilder waren verboten. Soldat Carstens muss sie im Verborgenen gemacht haben, während seiner Zeit als Besatzungssoldat in Polen. Es sind Fotos von einer Sammelstelle für Juden oder einem Arbeitslager in Gleiwitz. Die jüdischen Männer stehen hinter Stacheldraht im Lager und umringen einen Wehrmachtsoldaten, der erhöht steht, vermutlich auf einem Tisch, und Anweisungen gibt. |233| Simon Carstens ist erschüttert, weil ihm der Inhalt der Bilder vorher nicht aufgefallen ist. Er verabschiedet sich von mir und sagt, er werde jetzt heimfahren und als Erstes in Stuttgart seine Lupe aus der Praxis holen. Simon Carstens ist einen Schritt weiter gekommen, er hat ein neues Mosaiksteinchen gefunden.

Das rauschende Fest zum 60. Geburtstag
    Gabi Sonnbach* hat zur Geschichte ihres Vaters nichts Greifbares in der Hand. Aber darum ging es zu Beginn unserer Begegnung noch gar nicht, sondern um ihren 60. Geburtstag. Nur wenige Tage sind seitdem vergangen. Es muss es ein rauschendes Fest gewesen sein, bis in den frühen Morgen hinein, als die letzten Gäste auf dem Heimweg die Sonne begrüßten. Feiern ohne Grenzen, das war Gabis Wunsch gewesen: Musik aufdrehen bis zum Anschlag, tanzen bis zum Umfallen, ein langes Fest (open end!), ein lautes Fest (mit Disko!) – und bitte keine Polizei. Nach hartnäckiger Suche hatte sie den optimalen Partyraum gefunden, ohne Nachbarn im Haus oder im Nebengebäude. Sie wollte nicht wiederholen, was in ihrer Studentenzeit üblich war, als die Zutaten einer gelungenen Fete laute Musik, Rotwein und Nudelsalat waren und sich der Höhepunkt durch das Auftauchen zweier Ordnungshüter ergab, die johlend empfangen wurden.
    Gabi Sonnbach war verblüfft, wie viel man sich im Freundeskreis an Programmpunkten hatte einfallen lassen. Die Rückenstärkung, die sie durch ihre Wahlfamilie erfuhr, übertraf alle ihre Erwartungen. Etwas Besseres kann einer Frau, die alleinstehend und kinderlos ist, nicht passieren. Es

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