Nachkriegskinder
gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie im Alter einsam sein wird. Dann erfahre ich den zweiten Anlass für die Feier: Sie ist frei! Mit 60 Jahren ist sie in Rente gegangen.
Gabi gehört zu den Frauen, die sich etwas Jungmädchenhaftes bewahrt haben. Als sie mich am Bahnhof abholt, fällt mir ihr |234| leichter Gang auf, und ich frage sie, wie es ihr gelingt, so gut und so jung auszusehen. Sie habe einfach keine Lust, in ihrem Alter schon alt zu werden, antwortet sie, jetzt, wo das Leben allmählich entspannter werde … Eine halbe Stunde später sitzen wir an ihrem Esstisch, das Aufnahmegerät ist eingeschaltet. Gabi Sonnbach hat Sozialpädagogik studiert. Schnell kommen wir darauf zu sprechen, wie weit das Pendel der Erziehung in den siebziger Jahren ausgeschlagen ist. Dies sei auch bitter nötig gewesen, meint sie. Vor einiger Zeit ist sie im Internet auf eine Liste mit Erziehungssprüchen 37 gestoßen. An die hundert müssen es gewesen sein. 95 Prozent davon kennt sie. »Die kenne ich sogar sehr gut«, bekräftigt sie. »Solche Sätze vergisst man nie. Ich habe sie mir extra für unser Gespräch heute ausgedruckt. Wollen Sie mal hören?« Ach, denke ich, da sind sie ja wieder – ihnen ist wohl niemand entkommen.
Kannst du mir mal sagen, was das soll
Geh da weg
Das ist nichts für Kinder
Entschuldige dich
Dazu bist du noch zu klein
Hör auf dich wie ein Kind zu benehmen
Da führt nun mal kein Weg dran vorbei
Das ist doch kein Umgang für dich
Hör mit dem Geplärr auf
»Aufhören«, bitte ich, »die Sprüche kenne ich doch auch alle!« – »Dachte ich mir«, sagt sie. »Man glaubt, man kriegt davon eine Blutvergiftung, nicht wahr?«
Gabi Sonnbach machte mit 40 Jahren eine Umschulung zur Computergrafikerin und arbeitete seit 1990, überwiegend halbtags, in der Stadtverwaltung, Abteilung für Außenwerbung. Ihre Rente fällt entsprechend klein aus, aber damit kommt sie gut zurecht. Im Grunde hat sie, was sie braucht. Ihre kleine Wohnung |235| ist hübsch geschnitten und günstig in der Miete. Ein Auto besitzt sie nicht. Reisen mit Hotelkomfort kann sie sich nur selten leisten, doch das gleicht sich aus, weil Freundinnen und Freunde häufig ihre Ferienhäuser anbieten oder sagen: »Komm uns doch mal besuchen!« Die Häuser, vor dreißig Jahren billig erworben, liegen in den schönsten Gegenden Europas. Gabi muss praktisch nur die Fahrtkosten zahlen.
Reisen mit leichtem Gepäck
Am liebsten fährt sie in den Süden, schon deshalb, weil sie mit leichtem Gepäck reisen kann. Grundsätzlich lebt sie mit der Formel »Keep it simple«. An dieser Stelle unseres Gesprächs macht Gabi einen Früher-Heute-Vergleich. »Meine Güte, wenn ich daran denke, wie ich meine ersten Reisen angetreten bin, alle Sachen sorgfältig gebügelt und gefaltet!« Sie lacht auf. »Schuhputzzeug hatte ich dabei, Waschmittel, am Anfang sogar ein Reisebügeleisen.«
Sie war, so lange sie zu Hause wohnte, keine Jungrebellin gewesen, sondern jemand, der vor allem eines wollte: ja nicht ungut auffallen. Umso verblüffender die Wandlung, die begann, als Gabi Sonnbach von zu Hause fortzog, 19 Jahre alt, unsicher, leicht zu irritieren, und getrieben von einem einzigen großen Verlangen »Bloß raus hier!« – als hinge ihr Überleben davon ab.
Wer ihr heute zum ersten Mal begegnet und ihren Hintergrund nicht kennt, muss glauben, sie käme aus einem liberalen Elternhaus. Tatsächlich aber schildert sie eine gnadenlose Dressur, vor allem von Seiten des Vaters. Bevor sie auf typische Situationen zu sprechen kommt, muss sie noch etwas loswerden. Sie sagt, sie stehe noch unter dem Eindruck einer Radiosendung vom Vortag. Hier sei der Altersforscher und Experte für Kriegskindheiten Hartmut Radebold zu Wort gekommen. »Er hat davon berichtet, wie er mit etwa 55 mit seiner eigenen Kriegsvergangenheit wieder in Berührung kam und wie sich danach die Beziehungen zu seinen |236| Kindern gebessert hätten. Ich musste weinen. Das wäre mal ein Vatermodell gewesen, von dem man nur träumen kann.« Und sie fügt hinzu: »Wenn in einem Fernsehfilm jemand seine Tochter in den Arm nimmt, dann sitze ich da und heule, heute noch!«
Ihre Eltern Wilhelm und Hanna Sonnbach* stammten aus Berlin. Nach Kriegsende hatte es sie in eine rheinische Kleinstadt verschlagen, wo Gabi mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester aufwuchs. Ihr Vater, Jahrgang 1902, war für den Ersten Weltkrieg zu jung gewesen und für den Zweiten Weltkrieg schon zu alt. Nur in den
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