Nachkriegskinder
letzten zwölf Monaten bis Mai 1945 hatte man ihn noch in eine Wehrmachtsuniform gesteckt, glaubt Gabi zu wissen, und sie schickt gleich eine Warnung hinterher. »Nichts, was Sie jetzt hören werden, ist gesichert. Auf eine Frage, die mit ›Wissen Sie, ob …‹ beginnt, muss ich immer gleich Nebel streuen, weil alles, was ich diesbezüglich schon mal gehört habe, bei mir versandet.«
Nebel und Vergesslichkeit
Angeblich lautete der Auftrag für Rekrut Wilhelm Sonnbach im besetzten Holland »Pferde organisieren«. Seine Tochter und ich rätseln, was damit gemeint gewesen sein könnte. Schickt man einen nicht mehr jungen Großstädter aus Berlin zu niederländischen Bauern, um dort für die deutsche Armee die letzten noch übrig gebliebenen Kaltblüter zu beschlagnahmen? Aber vielleicht, wende ich ein, habe er den Einsatz in den Niederlanden nur erwähnt, um deutlich machen, dass er in keinerlei Gefechte verwickelt gewesen sei. Gabi überlegt. »Ich glaube, ich hab ihn auch mal gefragt, ob er geschossen hätte, das hat er, meine ich, verneint«, sagt sie. »Ich habe nie richtig nachgefragt. Ich wusste genau, was ich nicht zu fragen habe.«
Das Vermächtnis ihres Vaters ist Nebel. Der äußert sich bei ihr als Vergesslichkeit – als weigere sich ihr Gedächtnis, verlässliche Informationen zur Vergangenheit der Eltern zu speichern. Jedem Hinweis, der Vaters Krieg erhellen könnte, fehlt der Zusammenhang. |237| Jede Spur versickert. Angeblich hat er einige Semester studiert – was? Angeblich hat er dann das Studium abgebrochen, weil sein Vater früh starb – aber was kam danach? Kann es sein, dass er ohne Ausbildung war? Womit verdiente er in Berlin sein Geld? Seine Frau, die er Anfang der vierziger Jahre heiratete, arbeitete im Reichssicherheitshauptamt mit Reichsführer-SS Heinrich Himmler an der Spitze. Ihre Tochter glaubt, einmal gehört zu haben, ihre Mutter habe manchmal nachts zum Dienst kommen müssen, um bei Verhören zu protokollieren, und dies sei eine große Belastung für sie gewesen.
Gabi besitzt einen Brief ihrer Mutter aus einer Zeit, als diese evakuiert war. Die 15 Jahre jüngere Ehefrau schrieb ihrem Mann in die täglich von Bombenangriffen heimgesuchte Hauptstadt, sie mache sich Sorgen um ihn, sie befürchte, er würde seine Pflichten vernachlässigen und zu viel Kartenspielen. Doch um welche Pflichten ging es? Wie sah sein Kriegsalltag aus? Im Gespräch mit Gabi Sonnbach wuchern die Fragen, auf die sich keine Antworten finden lassen.
Im Nachlass ihrer Mutter stieß sie auf eine Rechnung mit Heil-Hitler-Gruß. Es handelte sich um die Schlafzimmermöbel ihrer Eltern. Ehebett, Schrank und Kommoden waren 1941 gebraucht gekauft worden. Sie hatten den Krieg überstanden sowie den Umzug in den Westen, und sie hatten Gabis Eltern überlebt. Der Vater starb 1975, die Mutter 30 Jahre später. Als die Tochter nach dem Tod ihrer Mutter die Möbel loswerden wollte, entstand ein Problem. Mehrere Entrümpelungsfirmen winkten ab, sie wollten sie nicht einmal geschenkt haben. Schließlich fand ein Kroate daran Gefallen, er meinte, das Schlafzimmer sei genau nach dem Geschmack seiner Eltern, Flüchtlinge, die im Balkankrieg alles verloren hatten.
Gabi machte noch eine weitere Entdeckung, als sie sich den Nachlass genauer anschaute. In einer alten Mappe befanden sich Notenblätter und Aquarellbilder, die vom Vater stammten. Also hatte er gemalt und kleinere Stücke komponiert. Warum hatten |238| seine Töchter nie davon erfahren? Was hatte ihn daran gehindert, seinen Kindern zu erzählen, er habe einmal ein viel freieres Leben geführt, mit einem ausgeprägten Interesse an Kunst? Gabi sagt, ihr selbst wäre eine solche Idee nie gekommen, denn der Vater ihrer Kindheit sei starr und streng gewesen. »Vati hatte zu Hause das Sagen. Er thronte am Tisch und bekam zuerst zu essen und das größte Stück Fleisch. Die Beziehung zu uns Kindern bestand nur aus Maßregelungen und Kritik, wo ich mich später gefragt habe, wofür eigentlich? Wir waren die bravsten Mädchen unter der Sonne. Wir sind nirgendwo aufgefallen, – nicht, dass Sie das glauben – wir waren nie frech in der Schule.«
»Für meine Eltern waren wir Möbelstücke«
In ihrem Elternhaus gab es keine Aufregung, keinen Streit, auch keine Freude, die gewärmt hätte. Es herrschte ein Klima der gedämpften Emotionen. »Meine Schwester und ich sagen heute: Wir waren unseren Eltern nur lästig. Wir waren eigentlich Möbelstücke.«
Ständig mussten die
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