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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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eine begeisterte Chorsängerin. »Musik ist für mich alles!« sagt sie und beschreibt damit ihre größte Ressource. Sie hat lange dafür gespart, um ein Klavier kaufen zu können. In der kommenden Woche, sagt sie, werde es geliefert. Ihr Gesicht hellt sich auf.
    Dann kreisen unsere Gedanken wieder um den Vater. Wer war er? Was hatte er im Krieg erlebt? Warum war er verstummt? Was hatte ihn geprägt? Wilhelm Sonnbach war bei Kriegsende 43 Jahre alt, nicht mehr jung genug, um sich in gänzlich veränderten |241| Lebensverhältnissen schnell zurechtzufinden. Vielleicht reichte seine Kraft gerade noch, um den Überlebenskampf zu bestehen und seine Familie zu versorgen. Seine Tochter kann nicht einschätzen, ob und wie tief ihn die deutsche Katastrophe erschütterte. Sie fragt sich, ob der Vater geistig dem Widerstand nahe stand, denn er hatte einmal sein Interesse für die Bekennende Kirche und den Besuch von Bibelkreisen erwähnt. »Er hat immer gemeint, die Kirche hat im Dritten Reich versagt.« Auf der anderen Seite kann sie nicht gänzlich ausschließen, dass er in Berlin vielleicht doch den Schulterschluss mit den Nationalsozialisten machte und Schuld auf sich lud.
    Mehr lässt sich über seinen Hintergrund nicht aussagen. Über die Personen und Beziehungen in seiner Herkunftsfamilie ist so gut wie nichts bekannt. Man weiß nichts über seine Vorlieben als junger Mensch: ob er Hermann Hesse und Rainer Maria Rilke las oder Ernst Jünger, ob er einer Clique angehörte oder ein Einzelgänger war, ob er Glück oder Pech bei den Frauen hatte … Das einzig Konkrete, womit er sich seinen Töchtern ins Gedächtnis einbrannte, sind seine Erziehungsmethoden.

Wie hält man so viel Druck aus?
    Manche Menschen schleichen nach einer solchen Kindheit nur noch gebeugt durchs Leben. Gabi Sonnbach aber, der die Eltern völlig im Einklang mit dem vorherrschenden Erziehungsideal »den Willen gebrochen« hatten, richtete sich nach und nach auf. Nachdem sie ihr Elternhaus verlassen hatte, trug sie ein imaginäres Spruchband vor sich her, auf dem zu lesen war: FREI SEIN. Aber wie, frage ich sie, hält man als Kind und Jugendliche soviel Druck aus? Gab es irgendjemanden, der ihr zur Seite stand? Gabi berichtet von einer Frau aus der Kirchengemeinde, zu der sich eine besondere Beziehung entwickelt habe – bis heute, diese Frau sei inzwischen 90 Jahre alt. Die Kirche sei damals kein besonderer Hort der Freiheit gewesen, räumt sie ein. Aber für sie habe weit |242| mehr Freiheit zur Verfügung gestanden, als sie von zu Hause kannte. Sie sei ja auch kein Kind gewesen, das an Grenzen stieß, da sei sie ja immer schon vorher abgebogen. Gabi Sonnbach nennt sich im Rückblick eine »superloyale Tochter«. Deshalb konnte sie sich der Gemeindehelferin auch nicht anvertrauen.
    Die christlichen Ferienfreizeiten bedeuteten Gabi viel, es waren glückliche Tage. Jedes Mal auf der Heimfahrt fiel sie durch Weinen auf. Die Betreuer glaubten, ihre Tränen seien Ausdruck ihres großen Heimwehs, das sich nun endlich auflöse … Während Gabi mir davon erzählt, zeigt ihr Gesicht den Widerhall von Verzweiflung. Dann kommt sie auf ihre Kinderängste zu sprechen – die Angst, es könne den Eltern etwas Schlimmes zustoßen, wenn diese unterwegs waren. Das Mädchen beruhigte sich erst wieder, wenn es den Schlüssel in der Wohnungstür hörte. »Ich glaube, ich habe schon als Kind gespürt, wie hilflos sie im Grunde waren«, vermutet sie. »Später ist meine Mutter sehr depressiv geworden. Vater erstarrte immer mehr, er kriegte einen immer dickeren Bauch, er wälzte sich vom Stuhl auf die Couch, und ich brachte ihm die Pantoffeln.«

Mit 15 Jahren begannen die Depressionen
    Auch Gabi Sonnbach kennt sich mit Depressionen aus. Sie begannen, als sie 15 Jahre alt war. In ihrer Jugend hatte sie keinen Freund gehabt. Sie wusste nicht, warum sich das Leben lohnen sollte und weinte viel. Warum muss das alles so sein? Warum gibt es keine Freude in unserer Familie? Warum muss ich soviel im Haushalt tun? An diesem Punkt ihrer Erinnerung richtet sich die 60-Jährige auf und sagt mit veränderter, empörter Stimme: »Ich musste, was ich heute ziemlich unmöglich finde, Vatis Schuhe putzen. Wie finden Sie das? War das normal?« Ich nicke.
    Sie war 17 Jahre alt, als sie von ihrem Vater erfuhr, die Mutter sei bei Kriegsende vergewaltigt worden. Sie sehe ihn noch vor sich, sagt Gabi, mit der Cognacflasche, ziemlich angetrunken. Sie habe |243| sich damals gefragt, warum er

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