Nachkriegskinder
ihr das erzähle. Ganz gewiss habe sein Bekenntnis nicht dazu beigetragen, zwischen ihm und ihr mehr Offenheit herzustellen – bei ihr habe es nur Verwirrung ausgelöst. Sehr viel später habe ihr die Mutter die Vergewaltigung bestätigt. Über nähere Umstände wisse sie nichts.
Gabi Sonnbach hat sich vorgenommen, dem Thema Kriegsfolgen und Vergewaltigungen weiter nachzugehen. Es ist noch nicht lange her, als ihr erstmals die Idee kam, die Auswirkungen des Krieges könnten auch in ihrem Leben eine Rolle spielen. »Heute spüre ich, wie es mich entlastet, wenn ich mich diesen Themen stelle«, erklärt sie. »Nach entsprechenden Seminaren und Tagungen fühle ich mich leichter und stimmiger. Ich habe eine Idee bekommen, wohin meine Gefühle gehören, die ich mir so lange Zeit nicht erklären konnte. Meine Gefühle haben nun einen Ort gefunden, sie haben eine Überschrift.«
Mit Anfang Zwanzig ist sie in Auschwitz gewesen. Damals dachte sie, es sei der letzte große Schritt, um das Ungeheuerliche, das ihr die deutsche Vergangenheit vererbt hatte, auf einen realen Boden zu stellen. Nun wird sie in den Archiven des Berliner Document Centers, in der Wehrmachtsauskunftsstelle und in der Verwandtschaft nach Spuren ihres Vaters Wilhelm Sonnbach forschen.
Die Eltern bewahrten das Andenken an ihre Heimatstadt im Verein »Bund der Berliner«. Dort traf man sich regelmäßig, man unternahm auch Berlin-Reisen. Ihre erwachsene Tochter unterstellte ihnen noch jahrelang, es ginge in ihrem Verein stockkonservativ zu. In Gabis Augen konnte es gar nicht anders sein, schickten doch ihre Eltern Päckchen »nach drüben« und stellten zu Weihnachten Kerzen ans Fenster. Tatsächlich aber betrieben Mutter und Vater reine Traditionspflege. Bei den Vereinstreffen wurde Eisbein und Pflaumenkuchen gegessen. Außerdem waren die Eheleute Sonnbach Anhänger von Willy Brandt. Gabi sah keinen Grund, ihre Eltern zu verdächtigen, persönlich etwas zur deutschen Schuld beigetragen zu haben.
|244| Gabi und ich unterbrechen unser Gespräch, weil wir Hunger haben. Nach dem Essen sprechen wir über ihre Berufsfindung. Eigentlich hatte sie Musiktherapeutin werden wollen, aber für ihren Vater sei die Ausbildung angeblich nicht finanzierbar gewesen. Offenbar bekam Wilhelm Sonnbach als Verwaltungsangestellter nur ein bescheidenes Gehalt. Die Familie verreiste nie. Es hieß, es sei kein Geld dafür da.
Als der Vater schwächer wurde
Bei ihrer Geburt war der Vater fast 50 Jahre alt gewesen. In ihrer Jugend sah sie sich einem älteren Herrn gegenüber, dessen Kräfte nachließen. Sie wagte erste Widerworte, wobei ihr jedes Mal das Herz bis zum Hals schlug. Wilhelm Sonnbach machte es sich leicht. »Weil ich seine Meinung nicht teilte, blieb ich die schlechte Tochter, die eine gute Erziehung nicht zu schätzen wusste«, stellt Gabi fest. »Als meine Schwester und ich einmal Miniröcke trugen, meinte er, wir sähen aus wie Straßenmädchen. »Er wollte nicht, dass wir Spaß an der Sexualität haben«, erklärt sie. »Als ich Interesse zeigte, hat er üble Bemerkungen über die jeweiligen Jungen gemacht. Spaß haben war grundsätzlich verboten.«
Dennoch suchte auch Wilhelm Sonnbach nach Entspannung, aber heimlich, er war ein Mann mit Doppelmoral. Irgendwann fand seine Tochter heraus, dass er sich einmal in der Woche in einem Kino Filme ansah, die damals als »frivol« und »delikat« bezeichnet wurden. Sie hießen »Das Schlafwagenabteil« oder »Schweinegeishas und Matrosen« und boten für heutige Begriffe harmlose Sexgeschichten an. Damals galten sie als Sensation oder als Skandal, je nachdem. Es handelte sich um die Vorläufer jener Sexfilme (»Unter dem Dirndl wird gejodelt«), die in den Siebzigern jahrelang die Hälfte der renommierten Großstadtkinos okkupierten.
Gabi erinnert sich, wie sehr sich ihr Vater aufregte, weil sie die Pille nahm. Seinem Argument »Du weißt doch gar nicht, was |245| das später mal für Folgen haben wird« kann sie rückblickend sogar beipflichten, aber sie wird nie vergessen, mit welcher Drohung er den Konflikt auf die Spitze trieb: »Wenn du die Pille nimmst, dann bist du nicht mehr meine Tochter!« Später habe ihr mal eine Tante erzählt, sie sei seine Lieblingstochter gewesen. Darauf Gabi: Schade, dass ich davon nichts bemerkt habe. Mir gegenüber fügt sie hinzu, sie sei für ihr ganzes Leben geimpft gegen Hierarchien, das komme eben bei so einer Erziehung heraus. Sie geht in die Küche, um Mineralwasser zu holen.
Weitere Kostenlose Bücher