Nachkriegskinder
hatte sie sich stark gefühlt. Aber nun, auf sich allein gestellt, zeigte sich, dass ihr Selbstwert für das Procedere des Sich-Bewerbens nicht ausreichte. Kontakte knüpfen und sich ins Gespräch bringen, war ihre Sache nicht. Ihr fehlte der Antrieb, denn sie lief mit dem Gefühl durch die Welt: Egal, wo ich mich melde oder vorstelle, die wollen mich sowieso nicht. Wenn eine Freundin fragte, ob sie mal an eine Psychotherapie gedacht habe, antwortete Gabi, sie werde doch wohl in der Lage sein, ihre Probleme selbst zu regeln. Tatsächlich wurde ihre Perspektivlosigkeit zum Dauerzustand. Was sie in dieser Zeit gebraucht hätte? Nur dies: Lebensmut und Selbstvertrauen – oder wenigstens die Fähigkeit, sich Unterstützung zu holen. Davon war Gabi Sonnbach weit entfernt. Eine solche Grundausstattung hatten ihr die Eltern nicht mitgegeben.
Schließlich merkte sie, wie ihr die Zeit davonlief: Hätte sie die Vierzig erst einmal überschritten, würde ihr Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz womöglich ein Traum bleiben. Gerade noch rechtzeitig machte sie eine Ausbildung zur Grafikerin und kam im öffentlichen Dienst unter. Sie weiß, dass in ihrem Fall die frühe |248| Geburt ihr Glück war. Zehn Jahre später geboren, hätte sie zu den Babyboomern gehört, in diesem Fall wäre ihr das Happy End vermutlich nicht mehr gelungen.
Mit Dreißig kamen die gesundheitlichen Probleme
Mit Mitte Dreißig bekam Gabi Sonnbach ernsthafte gesundheitliche Probleme. Ihre Rückenschmerzen steigerten sich zum Bandscheibenvorfall, zur Lähmung im Bein. Hier taucht in unserem Gespräch ein weiteres Problem auf: Schon immer leidet sie unter einer Ärzte-Phobie. Allein der Gedanke an eine bevorstehende ärztliche Behandlung versetzt sie in Panik. Daran hat sich bis heute nichts geändert, obwohl dies der Grund war, warum sie sich letztlich doch zu einer Psychotherapie entschloss.
»Vor jedem Arztbesuch mache ich Bestärkungsrituale – da habe ich schon fast alles ausprobiert«, sagt sie. »Manchmal nehme ich ein Beruhigungsmittel und habe trotzdem einen Blutdruck von 200. Ich erzähle davon auch meinen Freunden, das ist eine frühe Strategie von mir. Ich dachte immer, ich muss alles rauserzählen, dann verliert es seinen Schrecken, nur leider hat das nicht bei allem funktioniert.« Ihr letzter Satz verweist auf andere Ängste, die jedoch im Laufe der vergangenen Jahre deutlich schwächer wurden, zum Beispiel Bedrohungsgefühle, die sie seit ihrer Kindheit aus Kriegsträumen kennt. Sie wohnten in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens. Die Maschinen flogen niedrig, und Gabi hatte Angst, sie würden auf ihr Haus fallen. Davon handelten ihre Träume, aber auch von der Angst vor einem Atomkrieg.
In den vergangenen zwanzig Jahren tauchte ein weiterer Schrecken auf, stets kurz nach dem Einschlafen: ihre Angst, ins Bodenlose zu fallen. In manchen Nächten kam die Todesangst immer wieder: zehn Mal, zwanzig Mal ins Bodenlose stürzen. »Jahrelang bin ich morgens mit einem unglaublich grauen, schweren Gefühl aufgewacht« sagt sie, »meine Nächte sind oft grauslich, aber die |249| Therapie hat sie erträglicher gemacht. Heute gelingt es mir meistens, meine Tage in guter Stimmung zu verleben.«
Mit ihrer Lebensbilanz ist Gabi Sonnbach zufrieden. Zwar, sagt sie, seien viele ihrer 60 Jahre extrem anstrengend gewesen, was sie erst heute klar erkennen könne. Dennoch: Sie habe sich durchgeboxt, der Preis sei hoch gewesen, doch sie sei weit gekommen.
Wie Gabi mir ihren Vater beschrieb, stammten seine Erziehungsmethoden nicht aus der Nazizeit, sondern aus der Kaiserzeit. Sie erinnern sehr an die Kinderdressur in dem Kinofilm »Das weiße Band« von 2009, der in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg spielt. Was heute kaum mehr im Bewusstsein ist: In den fünfziger Jahren galt für große Teile der deutschen Bevölkerung die Kaiserzeit als die »gute alte Zeit«. Auf sie konnte unbedenklich zurückgegriffen werden. Sie war noch unbelastet von zwei Weltkriegen, von NS-Herrschaft und Massenverbrechen. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer, geboren 1876, galt vor allem deshalb als vertrauenswürdig, weil er der Epoche des letzten deutschen Kaisers entstammte. Die erfolgreichsten Kinofilme der fünfziger Jahre handelten von Kaiserin Sissi. Kein Zufall. In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche ist es üblich und notwendig, dass ein Kollektiv sich eine »gute alte Zeit« aussucht. Ob die Einschätzung der historischen Realität entspricht
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