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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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oder nicht, spielt keine Rolle. Menschen, die zutiefst verunsichert sind, brauchen Orientierung. An irgendetwas müssen sie sich festhalten, wenn sie bei Null wieder anfangen. Die Hinwendung zur »guten alten Zeit« schafft ein gemeinschaftliches Lebensgefühl, das ein Nachdenken über eine ungute oder unheilvolle Vergangenheit blockiert. Vielleicht waren die Normen aus der Kaiserzeit das einzig Verlässliche in Wilhelm Sonnbachs Nachkriegszeit.

|250| Angst und Wut eines Einzelgängers
    Bei jedem Projekt, dessen Arbeit sich über mehrere Jahre erstreckt, macht der Zufall Dinge möglich, die man, hätte man konkret nach ihnen gesucht, nie gefunden hätte. Von der Geschichte, die ich hier wiedergeben möchte, hörte ich zum ersten Mal während einer Wanderung durch die Alpen. Hagen Blankensiefen* hatte sich unserer Gruppe angeschlossen, obwohl er uns beim Kennen lernen in einem Hotel in Südtirol versichert hatte, am liebsten sei er allein unterwegs, er vermisse niemanden. Er hatte etwas schroff gesprochen, als müsse er Zudringlichkeit vorbeugend abwehren. Aber am folgenden Tag wachte er mit einer Erkältung auf und sagte, er fühle sich nicht hundertprozentig fit und werde deshalb wohl doch lieber in Begleitung durch die Berge laufen. Die meiste Zeit war er für sich, er blieb häufig stehen, fotografierte und holte die Gruppe jedes Mal erstaunlich schnell wieder ein. Ich bewunderte seine Kondition und sagte es ihm auch. Er meinte, Sport sei für ihn überlebenswichtig, damit habe er schon so manche Krise bewältigt. Dann lieferte er mir – ungefragt – eine Skizze seiner Lebensgeschichte. Drei Monate später trafen wir uns in seiner Wohnung in der Nähe von Dortmund zu einem ausführlichen Gespräch. Ich fragte ihn, ob ich es in meinem Buch mit seinen eigenen Worten wiedergeben könne, und er sagte, davon sei er ohnehin ausgegangen – schließlich handele es sich um seine höchstpersönliche Geschichte.
     
    ✎ Nächstes Jahr feiere ich meinen sechzigsten Geburtstag, und ich weiß, es macht keinen guten Eindruck, noch in meinem hohen Alter Schlechtes über die eigenen Eltern zu sagen. Im Freundeskreis heißt es immer, mit dem Thema müsse man »durch« sein. Ein frommer Wunsch, was meinen Fall betrifft. Ich vermeide Gedanken an meinen Vater – für mich kein Widerspruch dazu, dass ich mich zu diesem Gespräch mit Ihnen bereit erklärt habe. Wie |251| heißt es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht ergibt sich ja etwas Neues. Wenn Sie und ich gemeinsam darüber nachdenken, findet sich ja vielleicht doch noch ein Weg, um es in Zukunft ein bisschen leichter zu haben.
    Am besten, ich fange mal bei meinen frühen Erinnerungen an. Im Sommer 1956, da war ich fünf Jahre alt, hat die ganze Familie Urlaub an der See gemacht. Wir sind früh morgens noch im Dunkeln mit dem Auto losgefahren. Mein Vater sagte: »Jetzt bin ich mal gespannt, wer von euch als erster die aufgehende Sonne sieht.« Meine beiden älteren Brüder und ich saßen auf der Rückbank und haben uns, wie üblich, gegenseitig gepiesackt. Das mussten wir heimlich tun, im Beisein unserer Eltern war Streiten verboten. Wir Geschwister sind jeweils zwei Jahre auseinander. Wir haben uns ständig gestritten und auch geschlagen. Als meine Brüder noch stärker waren als ich, habe ich von ihnen viel abbekommen. Vater und Mutter durfte man damit nicht behelligen, es durfte nicht gepetzt werden, das fanden meine Eltern »unanständig«. Na ja, sich in Kinder hineinversetzen war ihre Sache nicht. Mein Vater war Einzelkind, meine Mutter die Älteste – da kamen sie wohl nicht auf die Idee, ihr jüngstes Kind müsse vor den Größeren in Schutz genommen werden.
    Wir drei saßen also hinten auf der Rückbank und waren damit beschäftigt, uns gegenseitig zu ärgern. Mir wurde beim Autofahren oft schlecht, und deshalb musste ich immer eine Kotztüte griffbereit haben. Als mir nun übel wurde, fand ich die Tüte nicht – einer meiner Brüder hatte sie versteckt. Das Erbrochene landete auf meiner Kleidung und auf dem Autositz. Mein Vater parkte am Straßenrand. Meine Mutter keifte, während sie alles sauber machte. Als ich wieder ansehnlich war, verpasste mir mein Vater eine Tracht Prügel. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, niemand hatte mehr auf sie geachtet.
    Für meinen Vater war danach wieder alles in Ordnung. Es ging ihm jedes Mal sichtlich gut, wenn er eines seiner Kinder bestraft hatte. Es konnte auch geschehen, dass er die Strafe aufschob, dass

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