Nachkriegskinder
|252| er die Zeit bis zu den unausweichlichen Schlägen für uns qualvoll dehnte und unsere ständig wachsende Angst genoss.
Bei Familienausflügen sang er gern Fahrtenlieder. »Wir lagen vor Madagaskar« oder »Wir lieben die Stürme« mit dem Refrain: »Wir sind die Herren der Welt, die Könige auf dem Meer.« Aber seine gute Laune konnte von jetzt auf gleich umschlagen und dann musste man gucken, dass man sich aus der Schusslinie brachte. Meine Mutter war diesbezüglich berechenbarer, sie war eigentlich immer schlecht gelaunt. Doch wenn Leute zu Besuch kamen oder anriefen, lachte sie bei der Begrüßung unentwegt, ein völlig unnatürliches Lachen. Es war mir schon als Kind peinlich.
Ich weiß, es wäre jetzt an der Zeit, zur Abwechslung mal etwas Gutes über meine Eltern zu sagen. Ohne Frage gibt es auch schöne Erinnerungen. Mein Vater hat gern mit uns Kindern Sandburgen gebaut und Priele gestaut. Sein Lieblingsspiel war »Monopoly«. Ostern wurden Eier gesucht. Die Weihnachtsgeschenke waren großzügig. Aber die gute Stimmung hielt gerade mal Heiligabend, danach war Krach. Entweder meine Eltern zankten sich oder wir Brüder untereinander, und/oder wir Kinder wurden mit Ohrfeigen und anderen Schlägen zur Ruhe gebracht.
Der Neid der Brüder
Am schönsten fand ich die Stille früh morgens am ersten Weihnachtstag. Lange bevor die anderen aufstanden, schlich ich mich zum Weihnachtsbaum und spielte mit meinen Geschenken. Wenn die Brüder wach wurden, war das schon nicht mehr möglich, weil sie neidisch waren und ich aufpassen musste, dass sie mir nichts von meinen neuen Sachen kaputt machten. Auch erinnere ich mich an frühe Schadenfreude von meiner Seite, und zwar dann, wenn einer meiner Brüder in der Nachbarschaft bei einem üblen Streich erwischt wurde und klar war, welche Strafe er zu erwarten hatte.
So wie meine Eltern mich schildern, bin ich phasenweise ein |253| sonderbares Kind gewesen: Die ersten zwei Lebensjahre habe ich nicht gelacht, kaum gespielt, sondern meistens dumpf in der Ecke gesessen. Sie haben schon gedacht, ich wäre ein Kretin – so nannten sie einen geistig Behinderten. Aber mit drei Jahren muss ich plötzlich »aufgewacht« sein und in Kürze alles Versäumte in meiner Entwicklung nachgeholt haben.
Als ich dann in die Pubertät kam, war ich eine Zeitlang verschlossen, fast stumpfsinnig, und meine Eltern meinten, das würden sie schon aus meiner frühen Kindheit kennen. Ich habe übrigens bis zu meinem 13. Lebensjahr ins Bett gemacht. Dafür wurde ich aber nicht bestraft. Meine Brüder haben mir später oft vorgeworfen, ich sei das Lieblingskind meiner Eltern gewesen. Leider habe ich davon nichts bemerkt. Aber ich habe sicher, wie alle Jüngsten in der Familie, ein bisschen mehr Freiraum gehabt. Ich durfte länger aufbleiben als meine Brüder im vergleichbaren Alter, dafür durfte ich aber auch ihre Kleidung auftragen.
Meine Eltern leben nicht mehr. Seit ihrem Tod verstehen wir Brüder uns recht gut, auch wenn ich der Familienaußenseiter bin. Das kommt auch daher, weil ich 18 Jahre im Ausland gelebt und gearbeitet habe. Ich fühlte mich in Deutschland nie besonders wohl und auch nirgends zugehörig. Vor zwölf Jahren kam ich zurück, und nun kann ich mich hier erst recht nicht mehr einfügen. Ich weiß nicht, was Heimat bedeutet. Politisch war ich nie links wie die meisten in meiner Altersgruppe, ich bin wohl eher konservativ – wenn ich ehrlich bin, interessiert mich Politik nicht sonderlich.
In den Augen meiner Brüder – einer ist Arzt, der andere Gymnasiallehrer – habe ich keinen anständigen Beruf. Meine Ehe wurde geschieden, als mein Sohn noch nicht in die Schule ging. Ich bin kein begabter Vater. Inzwischen ist mein Sohn erwachsen, wir haben kaum Kontakt, im Grunde sind wir uns fremd. Ich besitze kein Wohneigentum, auch kein dickes Auto. Meine Rente wird überschaubar sein. Was ich geerbt habe, war innerhalb von drei Jahren wieder futsch. Ich habe das Geld in einen Berufswechsel |254| investiert, vermutlich habe ich es nicht besonders schlau angestellt. Vor 10 Jahren habe ich meine kaufmännische Tätigkeit aufgegeben und mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich bin Fotograf geworden. Ich mache Kalender, auch Bildbände. Beides schlecht bezahlt, wie man sich vorstellen kann, aber man hofft ja immer auf den großen Wurf. Gelegentlich bekomme ich Aufträge von Firmen, dann fotografiere ich Produktionsstätten. Aber ich will mich nicht beklagen, ich bin wenigstens frei! Aus allem,
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