Nachkriegskinder
Eltern hatte ich eine Phase, als mir das alles merkwürdig vorkam. Ich dachte mir, es wäre gut, in jener Verwandtschaft nachzuhören, zu der meine Eltern den Kontakt abgebrochen hatten. Ich besuchte den sehr viel jüngeren Bruder meiner Mutter und der sagte: »Es war umgekehrt. Nicht deine Eltern haben sich abgewandt, sondern
ich
wollte von meinem Schwager und meiner Schwester nichts mehr wissen.« Wir haben uns einen ganzen Nachmittag zusammengesetzt, und mein Onkel hat mir alles erzählt.
Seine erste schlimme Begegnung mit meinem Vater hatte mein Onkel mit 13 Jahren. Verschwitzt und schmutzig von einem Fußballspiel hatte er seine frisch verheiratete große Schwester besucht und ein Bad nehmen wollen. Als er den Wasserhahn aufdrehte, löste sich die Armatur aus der Wand und eine dicke Fontäne setzte das Badezimmer unter Wasser. »Da hat dein Vater wie besinnungslos |257| auf mich eingedroschen«, berichtete mein Onkel. »Da wusste ich, er ist ein Schläger. Und ich wusste schon bald: In der SS können sie solche Leute gut gebrauchen.«
Ich will es kurz machen. Der Onkel hat dann herausgefunden, zu welchen speziellen Einsätzen mein Vater als SS-Mann herangezogen wurde. Er wurde gerufen, wenn es darum ging, bestimmte »Feinde des Reichs« einzufangen, einzuschüchtern, zusammenzuschlagen und – wenn die Opfer ihre Lektion gelernt hatten – sie wieder laufen zu lassen. Dazu war nicht jeder Mann in der Lage. »Aber dein Vater«, fügte mein Onkel hinzu, »konnte es gut. Er hat daran seine Freude gehabt.«
Mein Onkel erzählte mir auch, wie aussichtslos es Anfang der 30er Jahre für viele junge Akademiker gewesen war, eine Stelle zu bekommen. Gerade an den juristischen Fakultäten war die Arbeitslosigkeit eine riesige Sorge gewesen. Und gerade hier hatten die Nazis um Nachwuchs geworben. Hier hatten sie unter den Studenten ihre zuverlässigsten Anhänger gefunden und sie später auf einflussreiche Posten geschoben. Demnach war es kein Zufall gewesen, dass mein Vater so gut durch den Krieg gekommen war.
Dann erzählte mir mein Onkel, wann und warum er den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen hatte. Ende der vierziger Jahre war er Übernachtungsgast bei ihnen gewesen. Mein ältester Bruder, damals zwei Jahre alt, hatte ins Bett gemacht. Mein Vater hatte ihm zur Strafe immer wieder mit einem dünnen Stock auf die nackten Beinchen geschlagen, bis dort überall rote Striemen waren, und er hatte den jämmerlich schreienden Kleinen immer wieder aufgefordert: »Sag: Ich bin ein Schweinekerl! Los: Ich bin ein Schweinekerl!« Meine Mutter hatte nicht eingegriffen, sondern den Raum verlassen. Mein Onkel zu mir: »Da wollte ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Die waren doch beide Sadisten!«
|258| »Schade, dass man so einen Vater nicht zurückgeben kann«
Ja, so sieht es aus. Mehr gibt es über meine Familie eigentlich nicht zu sagen, denn natürlich habe ich meinen Brüdern nichts davon erzählt. Ich weiß nicht, wie es denen geht mit so einem Vater. Ich weiß nicht, ob sie auch manchmal Alpträume haben und beim Aufwachen denken, sie könnten den Alten erschlagen. Meine Brüder sind, sage ich mal, an Vergangenheitsbearbeitung nicht interessiert, weder privat noch gesellschaftlich. Ich glaube, sie gehören zu den beneidenswerten Menschen, die ausschließlich nach vorn gucken.
Als nächstes werden Sie mich vermutlich fragen, ob ich schon mal an eine Psychotherapie gedacht habe. Habe ich. Ich war damals Ende Vierzig. Dabei muss man wissen: Bevor ich in der Lage war, meinen Beruf zu wechseln, hatte ich eine depressive Phase. Mir wurde gesagt, eine psychotherapeutische Behandlung könnte hilfreich sein. Also bin ich zu einem Arzt gegangen, der Psychotherapeut ist. Dem habe ich dann auch von der Brutalität meines Vaters berichtet. Und wissen Sie, was der als Erstes gesagt hat? Er sagte, alle Eltern lieben ihre Kinder und wollen das Beste für sie. Es ginge also darum, das Gute in meinem Vater zu sehen und wertzuschätzen. – Da bin ich gegangen.
Ja, schade, dass man so einen Vater nicht zurückgeben kann. ✎
|259| INTERVIEW
»Wie das Bild von des Kaisers neuen Kleidern«
Jürgen Müller-Hohagen über den Nebel in deutschen Familien
Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen half mir, wesentliche Fragen, die während meiner Arbeit am Buch aufgetaucht waren, zu klären – und er half mir, zu akzeptieren, was nicht oder noch nicht zu beantworten ist. Wie kaum ein zweiter kennt sich Müller-Hohagen, geboren
Weitere Kostenlose Bücher