Nachkriegskinder
1946, mit dem Erbe der NS-Vergan genheit aus, auch in der Frage, wie dieses Erbe sich noch heute – meistens unerkannt – in kollektiven Verhaltensweisen und Einstellungen niederschlägt. In seinen Psychotherapien wie in seiner Arbeit an einer Familienberatungsstelle – einschließlich institutionellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen – ist er immer wieder darauf gestoßen. 1988 erschien sein Buch »Verleugnet, verdrängt, verschwiegen«, das zu den Standardwerken der Rubrik »Psychotherapie und Nationalsozialismus« zählt. Als besonders wohltuend und anregend empfand ich die Offenheit, mit der er in unserem Gespräch auch seine eigene Familiengeschichte anleuchtete.
Seit einem Vierteljahrhundert befassen Sie sich mit den Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg in deutschen Familien. Das Thema Nebel, sagen Sie, sei hierbei von zentraler Bedeutung. Was meinen Sie damit?
Da kann ich gern etwas aus eigenem Erleben beitragen, das gleichzeitig auch exemplarisch ist. Nachdem ich die Kleinstadt verlassen hatte, in der ich aufgewachsen war, nachdem ich also Distanz bekommen hatte, entstand bei mir der Eindruck: Meine Kindheit und Jugend sind im Nebel gewesen. Damals, als junger Mensch, habe ich das vor allem auf meine Familie bezogen, dabei besonders auch auf den frühen Tod des Vaters, als ich 13 Jahre alt war. Aber 1986, als ich mich auf die erste Tagung zu dem Thema, |260| über das wir hier sprechen, vorbereitete, rief ich in meinem Heimatort an. Dort gab es damals gerade eine Bürgeraktion, die die NS-Geschichte ausgrub. Auf diese Weise erfuhr ich zum ersten Mal, dass es dort eine Synagoge gegeben hatte, in einer Straße, die ich gut kannte – nie war früher davon die Rede gewesen. Und ich erfuhr auch, dass diese Kleinstadt Hohenlimburg im Ruhrgebiet wirklich ein braunes Nest gewesen ist – stolz darauf, prozentual die meisten Träger des Goldenen Parteiabzeichens zu haben. Das bekamen diejenigen, die schon bis 1925 in die NSDAP eingetreten waren.
Wie ist das Nachforschen von den Bürgern aufgenommen worden?
Wie nicht anders zu erwarten, gab es mit Bekanntwerden dieser NS-Geschichte heftige Auseinandersetzungen in der Stadt. Da ist mir erst klar geworden: So war das also in diesem Ort! Der Nebel kam nicht nur aus meiner Familie, nein, der wahrscheinlich wirkungsvollste Nebel bestand im Vertuschen der braunen Vergangenheit in diesem Hohenlimburg. Also, dieser Nebel ist nicht nur etwas Individuelles, er hat vielmehr sehr mit der Gesellschaft insgesamt zu tun. Und wenn man im Nebel ist, dann sieht man nicht deutlich, dann bekommt man keine Distanz zu der Umgebung, die einen prägt, dann kann man nicht klar sehen, und man kann noch nicht einmal jemand anderen fragen: Sag mal, siehst du auch das, was ich da sehe, siehst du auch, dass da etwas Merkwürdiges ist …?
Man kann also erst einmal nicht benennen, was einen irritiert?
Ganz genau. Als der Nebel sich dann gelichtet hatte, war ich in der Lage, meine Erinnerungen anders wahrzunehmen und zwei und zwei zusammenzuzählen. Passend ist für mich immer wieder das Bild von des Kaisers neuen Kleidern – der Junge, der sagt: Aber der Kaiser ist doch nackt! Also dieses Kind sieht, was alle anderen leugnen, es nimmt die Realität wahr und spricht sie an.
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Schränken diese Nebel der Vertuschung grundsätzlich die eigene Wahrnehmungsfähigkeit ein?
Ja. Das habe ich in Therapien mit Nachgeborenen, aber eben auch bei mir selbst erlebt. Man spürt als Kind, da stimmt etwas nicht in der Art, wie der Vater mir einen Sachverhalt erklärt hat, und da bleibt dann eine Irritation zurück. Kinder erfassen ja jede Veränderung in der Stimmlage, in der Körperhaltung, sie haben ein ausgeprägtes Sensorium dafür. Aber erst sehr viel später kommt die Erkenntnis: Da war etwas, das hat die Eltern unter Stress gesetzt, und darum habe ich mich nicht getraut nachzufragen. Ich erinnere mich, dass mein Vater mir einmal bei einem Spaziergang auf meine Frage hin erklärte, diese Vertiefung im Waldboden sei ein Bombentrichter. Und er sagte auch, es seien in diesem Stadtteil nur drei Bomben gefallen. Später, bei meinen Recherchen, stellte sich heraus, dass dies nicht stimmte. Es waren weit mehr Bomben gefallen, denn die Kleinstadt hatte viel kriegswichtige Industrie, sie war also den ganzen Luftkrieg über bedroht. Auch mein Vater war bedroht, denn er arbeitete ja als Ingenieur in einem dieser Betriebe.
Warum, glauben Sie, hat Ihr Vater das Geschehen
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