Nachkriegskinder
wurde. Noch heute haben wir in unserer Gesellschaft Schwierigkeiten, wirklich wertzuschätzen, dass wir eigentlich doch erst im Widerspruch, im Widersprechen zur Wahrheit kommen. In den fünfziger, sechziger Jahren hatte sich etwas so Bleiernes ausgebreitet. Hier wurde auch |264| die leise Stimme, auch der leise Widerspruch abgewürgt, die Stimme, die sagt: Ich verstehe nicht, was du da sagst, das klingt für mich sonderbar – da gingen sie in der Familie und in der Schule sofort mit dem verbalen Rasenmäher drüber, der damals den Ton angab.
Aus den Reihen der 68er stammt der Satz: »Wir waren die Juden unserer Eltern«. Das klingt erst mal anmaßend, finde ich. Andererseits waren viele Nazi-Eltern Anhänger der schwarzen Pädagogik. Sich als Opfer von Eltern zu sehen, die einen in der Kindheit und Jugend permanent nur abgewertet haben, ist das für Sie nachvollziehbar?
Ich kann da keine eindeutige Antwort geben. Da ist etwas dran. Ich bin aber immer sehr skeptisch gewesen, wenn es hieß: Wir waren die Juden unserer Eltern. Dann wird nämlich übersehen, dass man von den Eltern vieles in sich trägt, was man übernommen hat, was man übernehmen musste. Wenn es sich um täteridentifizierte Eltern handelt, trägt man unter Umständen auch etwas von deren Täterseiten in sich. Das Problem ist, dass man diese Seiten leicht übersieht, wenn man sich als Opfer definiert. Andererseits habe ich tatsächlich oft erfahren, dass Menschen von ihren Nazieltern übel behandelt wurden. Gerade auch beim Thema des sexuellen Missbrauchs wurde mir mehr als einmal sichtbar, dass NS-Täter oder NS-Tatidentifizierte dort weitergemacht haben, wo es gefahrlos ging, nämlich im Bereich der Familie. Dass Kinder also in schlimmster Weise zu Opfern ihrer Eltern wurden – ja, das geschah. Aber gerade wenn es um Missbrauch und Misshandlung geht, da ist es ja nun das Vertrackte, dass das Opfer den Täter oder die Täterin in sich aufnimmt.
Reden Sie von der Identifikation mit dem Aggressor?
J. M.-H.: Ja, und sie ist nun mal wirksam. Daraus ergeben sich unangenehme bis unmenschliche Seiten in uns, die wir aber nicht erkennen können, wenn wir uns ausschließlich als Opfer sehen. |265| Hier liegt eine enorme Tragik, die bis heute allenfalls nur in Umrissen gesehen wird.
Da fällt mir das Bekenntnis eines Freundes ein: Seine Frau litt an Depressionen, sie war noch nicht an dem Punkt zu erkennen, dass sie depressiv war, aber ihr Mann sah es. Dennoch, so erzählte er mir, habe er sie fertiggemacht wegen ihrer Symptome, er habe ihre Schwäche einfach nicht ertragen. Je mehr er auf seiner Frau herumhackte, umso länger wehrte sie sich dagegen, depressiv zu sein. Irgendwann hatte er das begriffen – übrigens durch einen Traum – und dann konnte er damit aufhören. Kurz darauf ist seine Frau zum Arzt gegangen. Dieser Freund erzählte mir das, weil er von meiner Beschäftigung mit diesen NS-Themen wusste. Er fragte mich beklommen, ob das mit seinem Familienhintergrund zusammenhängen könne.
Sie sprechen hier hochbedeutsame, aber leider immer noch massiv tabuisierte Themen an. Sich auch nur entfernt in einem möglichen Zusammenhang mit NS-Täterschaft zu sehen, weckt ganz starke Abwehr bei allen demokratisch eingestellten Zeitgenossen, was ja auch sehr verständlich ist. Deshalb wäre ich äußerst zurückhaltend, so etwas von mir aus über jemand anderen zu behaupten.
Der Freund teilte mir noch mit, er komme ja aus einer gewalttätigen Familie, in der Schwäche sehr geächtet war und dass die Eltern sich von der NS-Ideologie nicht verabschiedet hätten. Ob ich mir also vorstellen könne, dass dies bei seiner unsensiblen Haltung seiner Frau gegenüber mitgespielt habe? So fragte er mich, und jetzt gehe ich hier in unserem Gespräch noch einen Schritt weiter: Könnte es sein, dass in solch einer Situation wie bei diesem Mann Täteridentifikationen wirksam sind?
Ich finde es außerordentlich bemerkenswert, dass Ihr Freund so etwas von sich aus in den Raum gestellt hat. Ich vermute, er hat Recht. Wirklich wissen kann das letztlich nur er selber. Doch dafür |266| braucht er Unterstützung, braucht er ein klares Gegenüber, das weder beschwichtigt noch beschuldigt, sondern hilft genauer hinzuschauen. Auf dieser Grundlage ist dann schließlich eine wirkliche Befreiung von solchen untergründigen Kontinuitäten möglich. Davon jedenfalls gibt es viel, viel mehr, als üblicherweise gemeint wird. Auf einer wissenschaftlichen Tagung
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