Nachkriegskinder
verharmlost?
Weil er mich schonen wollte. Weil er nicht daran erinnert werden wollte. Und weil er mit der ganzen Zeit nicht fertig geworden war. Er besaß dazu keine Distanz.
Sie haben sich als Psychotherapeut schon früh mit der »Geschichte in uns«, wie eines Ihrer Bücher heißt, beschäftigt. Wie kam es dazu?
Seit 1982 lebe ich in Dachau. Mit der Entscheidung, hier ein Haus zu kaufen und von München dorthin zu ziehen, fiel auch die Entscheidung bei meiner Frau und mir, uns jetzt noch mehr als zuvor schon mit »dieser Vergangenheit« zu befassen. Bis 1986 war ich in der Ambulanz des Kinderzentrums München tätig, und dort fiel mir zunehmend auf, wie häufig Belastungen aus der NS-Geschichte |262| noch immer in manchen Familien wirksam waren. Später, an meinem neuen Arbeitsplatz, entstand bei einer Besprechung der Leiter der evangelischen Erziehungs- und Eheberatungsstellen in Bayern die Idee zu einer Tagung zum Thema »Spätfolgen«. Das interessierte mich auf Grund der Familiengeschichten im Kinderzentrum, wegen des neuen Wohnorts Dachau und auch auf Grund meiner eigenen Geschichte. Diese interne Jahrestagung der Beratungsstellen zum Thema »Spätfolgen aus Krieg, Gewaltherrschaft und existentiellen Bedrohungen« war dann eine äußerst bewegende Erfahrung. Daraus entstand mein Buch »Verleugnet, verdrängt, verschwiegen«, das 1988 erschien.
Ich erinnere mich daran. Das Buch wurde sehr stark wahrgenommen.
Ja, das hat mich selbst überrascht. Als ich mit dem Schreiben anfing, stellte ich mir vor: Was wäre, wenn ich von meinem Vater, der schon sehr früh gestorben ist, 1959, plötzlich erfahren würde, er war ein NS-Täter? Da würde sich ja mein ganzes Leben verändern. Ich hätte dann etwas über meinen Vater erfahren, das mein ganzes Bild von ihm umgestürzt hätte – und auch mein eigenes von mir selber. Wenn mein Vater SS-Verbrecher gewesen wäre – was er nicht war, er war ein sogenannter Mitläufer – aber was, wenn das alles Tarnung gewesen wäre? Dann wäre alles Lüge gewesen. Was hätte das mit mir zu tun? Wer bin ich dann? Wäre ich jetzt aus der Menschengemeinschaft ausgestoßen?
Sie und ich, wir sind ungefähr ein Jahrgang. Als wir jung waren, gab es plötzlich die rebellische Jugend an den Universitäten. Als wir unsere Eltern 1968 gefragt haben: »Was habt ihr gewusst?« – was ja die verschlüsselte Frage war: »Was habt ihr getan?« – wollten wir das tatsächlich wissen? Was glauben Sie?
Das sehe ich sehr vielschichtig. Es hätte vorausgesetzt, dass wir Vorbilder gehabt hätten, die uns gesagt hätten: Die Massenverbrechen in der NS-Zeit zeigen uns, wozu Menschen fähig sind. Oder |263| sie hätten gesagt: Auch wenn die Verbrechen uns heute unfassbar erscheinen, so verweisen sie doch auf die Grundausstattung des Menschen – oder: Angehörige eines Kollektivs können ungeheure Gewalt ausüben; auch für euch als die Nachkommen ist das schrecklich, aber wenn ihr offen damit umgeht, werden sich eure Belastungen verringern, denn schließlich haben das ja in erster Linie wir Älteren zu tragen. – Aber stattdessen war da die völlige Sprachlosigkeit.
War es in den sechziger und siebziger Jahren einfacher zu sagen: »Die Eltern waren Nazis«, als zuzugeben, dass man von ihnen misshandelt wurde? Auffällig ist, dass über Gewaltorgien in den Familien auch auf Seiten der Kinder geschwiegen wurde. Das taucht doch jetzt erst mit dem Film »Das weiße Band« auf. Es ist doch unglaublich, wie viele ältere Menschen jetzt erstmals bekennen: Ich bin als Kind auch so misshandelt und gedemütigt worden.
Ja. Das sehe ich genau so. Das war zu nah. Und es fehlte damals noch der gesellschaftliche Konsens, der heute solche Gewalt weithin ächtet. Da wurde erst mal etwas auf der politischen Ebene ausgetragen. Zugleich müssen wir sehen, dass die Verwicklungen von politischer und familiärer Gewalt äußert kompliziert waren. Es hat sozusagen alles gegeben. SS-Leute, die sich selbst noch in ihrer Rolle in der SS eine humane Seite bewahren konnten und die später unter Umständen tatsächlich liebevolle, unterstützende Väter waren, und andererseits Menschen, die nicht einmal in der NSDAP waren und die dann als Eltern einfach fürchterlich waren. Da muss man wirklich genau hinschauen. Aber auch eine weniger rabiate Erziehung der Nachkriegskinder macht sich heute noch bemerkbar. Zum Beispiel war es jahrzehntelang in sehr vielen Familien wohl so, dass Widerspruch nicht geduldet
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