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Papagei.
Von dieser Ermahnung angeregt, erfüllte Marcus die seiner Meinung nach wichtigste Arbeit des Tages: Er überprüfte das Pumpensystem, das ein Dutzend Cannabispflanzen, die hinter den Rosenstöcken im Garten verborgen wuchsen, bewässerte. Jonathan billigte diesen Kleinanbau keinesfalls, duldete ihn jedoch stillschweigend. Immerhin war Kalifornien der wichtigste westliche Produzent von indischem Hanf, und San Francisco stand für Toleranz und Subkultur.
Marcus blieb noch einen Moment auf der Terrasse, um von der Wärme zu profitieren. Nachdem er die längste Zeit seines Lebens in der Kälte Montreals verbracht hatte, genoss er das milde kalifornische Klima ganz besonders.
Auf der kleinen Erhebung des Telegraph Hill konnte man sich kaum vorstellen, dass Weihnachten vor der Tür stand: Die glänzenden Kelche des Jasmins begannen sich zu öffnen, Palmen, Prunus und Oleander glänzten in der Sonne, die Holzhäuser schienen sich unter dem Efeu zu biegen und verschwanden beinah inmitten eines üppigen Dschungels, in dem muntere Spatzen und bunte Kolibris lebten.
Auch zu der relativ frühen Stunde stiegen bereits Spaziergänger die blumengesäumten Stufen der Filbert-Treppe hinab. Trotz der üppigen Vegetation war das Haus nicht völlig sichtgeschützt. Einige Passanten waren belustigt, andere schockiert, keiner jedenfalls blieb gleichgültig angesichts dieses komischen nackten Kauzes, der eine Unterhaltung mit einem Papagei führte.
Marcus blieb davon ungerührt, bis einer der Touristen seine Kamera zückte, um die Szene zu verewigen.
»Nicht mal daheim hat man seine Ruhe!«, murrte der Kanadier und zog sich genau in dem Moment in die Küche zurück, als der Wecker der Mikrowelle durch sein Klingeln anzeigte, dass der »Garvorgang« abgeschlossen war.
Neugierig auf das Ergebnis, öffnete er das Gerät und zog seine Kleidung heraus. Sie war nicht nur trocken, sondern auch warm und herrlich weich!
Außerdem riecht alles nach Brioche , beglückwünschte er sich, während er den Geruch der Wäsche tief einatmete.
Er zog sich vor dem Spiegel an, rückte seine Unterhose zurecht und strich das T -Shirt glatt, dessen Aufdruck er besonders liebte:
OUT OF BEER
(life is crap)
Ohne Bier (ist das Leben scheiße).
Sein Magen knurrte. Ausgehungert öffnete er den Kühlschrank und kramte zwischen den Lebensmitteln, bevor er eine gewagte Mischung ausprobierte. Auf eine Scheibe Toastbrot strich er eine ordentliche Schicht Erdnussbutter, belegte sie mit Ölsardinen und verteilte einige Bananenscheiben darauf.
Exquisit!, dachte er und stieß einen Seufzer des Wohlbehagens aus.
Er hatte erst wenige Bissen von seinem Sandwich gegessen, als er sie bemerkte.
Die Fotos von Madeline.
Mehr als fünfzig Porträts waren mit Nadeln an die Korkplatte gepinnt, mit Magneten an den Türen der Metallschränke befestigt oder mit Tesafilm direkt an die Wand geklebt.
Sein Mitbewohner hatte ganz offensichtlich einen Großteil der Nacht damit verbracht, diese Fotos auszudrucken. Die junge Frau war darauf aus verschiedensten Blickwinkeln zu sehen: allein, mit ihrem Partner, von vorn, im Profil … Jonathan hatte einige Aufnahmen sogar vergrößert, um Augen und Gesicht hervorzuheben.
Perplex hielt Marcus im Kauen inne und näherte sich den Fotos. Insgeheim und möglichst unauffällig wachte der Kanadier über Jonathan. Warum diese Inszenierung? Welches Geheimnis suchte er im Blick von Madeline Greene zu entschlüsseln?
Er wusste, wie labil sein Freund noch war und dass seine »Genesung« auf wackligem Fundament stand.
Jeder Mensch hat in seinem Herzen eine Leere, eine Wunde, ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit.
Marcus wusste, dass die Wunde in Jonathans Herz sehr tief war.
Und dass ein solches Verhalten nichts Gutes verhieß.
Währenddessen einige Kilometer weiter …
»Papa, darf ich das Jerky probieren?«, fragte Charly. »Das ist doch das Fleisch, das die Cowboys essen!«
Seit einer Stunde lief Jonathan, seinen Sohn auf den Schultern, zwischen den Ständen des Bauernmarktes umher, die sich auf dem Vorplatz des ehemaligen Piers drängten. Ein unumgängliches Ritual für den Restaurantbesitzer: Jeden Samstag kam er hierher, um sich mit Lebensmitteln einzudecken und sich für den Speiseplan der kommenden Woche Inspirationen zu holen.
Der Farmers’ Market war eine echte Institution in San Francisco. Rund um das Ferry Building versammelten sich etwa hundert Bauern und Fischer, um ihre
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